Salto spirituale
Von Bernhard Benz
Der Niedergang
Global vernetzte Wirtschaftsstrategen und ihre Gehilfen aus Management, Bank, Politik, Militär und Medien haben mit ihren menschen-, gemeinschafts- und umweltverachtenden Machenschaften und ihrem egomanischen Allmachtswahn in wenigen Jahrzehnten in allen Staaten der Erde, die dem neoliberalen Hegemoniebereich zugefallen sind, einer beinahe totalitären Unmoral zu verhängnisvoller Dominanz verholfen, welche unsere Gesellschaft bis hinunter zum unerzogenen Kindergärtler geprägt hat.
Humanistische Ethik, idealistische Spiritualität, Selbstlosigkeit, Anstand werden an bemitleideten oder verlachten winzigen Minderheiten als deren pathologische Vorgestrigkeit diffamiert.
Und allenthalben sind zwerggeisterhaft vom Managementbluff verblendete Zauberlehrlinge unterwegs und stülpen bis ins hinterste Nest allen Korporationen und Institutionen die Narrenschiffskappe des Managementschaumschlägervokabulars über!
Wirkungsorientierte Verwaltung! Zertifizierte Wohlfühlgemeinde! Integrativ-zielorientierte Frühenglischsequenz! Blabla…
Als dem Schulunterricht die Etikette der Zielorientiertheit noch nicht aufgeklebt worden war, erreichten Lehrer und vor allem Schüler noch häufig das Ziel solider Bildung und der Beherrschung der relevantesten Kulturtechniken.
Wo im Kern der Sache und der Beteiligten Qualitäten wie Vertrauenswürdigkeit, Seriosität, Redlichkeit, Pflichtbewusstsein, Konzentration, Sorgfalt, Anstrengung, Uneigennützigkeit, Reflexionskultur, Verantwortungsbewusstsein, Anstand u. ä. fehlen, lässt die Tünche braingestormter, mindgemappter Business-Lunch-Operating-Bramarbasiererei den wirklichen Moder über kurz oder länger nur noch greller entstellt, horribler heraufgrinsen. —
Die Grosszahl der postmodernen privaten Lebensgemeinschaften (ehemals Familien) sind konsum- und zerstreuungsverfallen; die Massenmedien sind trivial-frivol, voyeuristisch-reisserisch, quotenhörig statt ethikverpflichtet; die Politik humpelt als krampfadriges Standbein von Public-Relations-Agenturen profilneurotisch und/oder interessenverschworen einher; der Schule werden von eben dieser Politik laufend neue Konzepte und Reformen über Augen und Ohren herunterkapuzt, wo doch das Malaise fast nur durch den unten unbeeinträchtigten Zufluss immer breiterer Ströme bildungsresistenter Kinder verursacht ist; und die Kirchen?, ja, leider, in den Kirchen echot Gottes Wort durch leere Schiffe von Wand zu Wand, und dann und wann umsurrt Brunch-Geschmatze des Gekreuzigten Ohren oder Guggenmusik zerschränzt seine Wundmale …
Die Besinnung
Da war doch einmal dieser Spruch, von Bertolt Brecht in den Krisen-, Kriegs- oder Nachkriegsjahren der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geäussert: „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Sicher: Wer am Verhungern ist, kann nicht weissbekragt und wohlgescheitelt der Sonntagspredigt (pharisäisch) lauschen und schert sich nicht mehr ums Vermeiden der Mundraubdelinquenz. Aber: Wer je – vielleicht später – in Brechts Spruch jene Umkehrdeutung konnotiert und mitprophezeit wähnte, wonach dem Menschen, dessen leibliche Grundversorgungsbedürfnisse befriedigt sind, Sinne und Seele für sittliches Verhalten wieder eher offen stehen, sieht sich heute, in einer Zeit „vollfetter“ Körperlichkeit und sich endlos fortschraubender materieller und libidinöser Begierden, eines Schlechteren belehrt. —
Was soll ich tun? So lautet die ethisch-philosophische Grundfrage, der wir uns stellen und die wir zu beantworten versuchen wollen.
Wir alle wollen, benommen noch und ausgebrannt vielleicht vom deliriösen und dekadenten Tanz um die goldenen Affen der Selbstsucht, der Verdinglichung und der Genusswillkür, unser Bewusstsein und unsere Einsicht schärfen, dass Mensch und Menschheit der Fall in animalische Kategorien droht, uns darin bestärken, dass dies nicht unausweichlich notwendig ist, in uns den Glauben an eine potentielle Entwicklung des Menschen zu einem vernünftigen, verantwortungsvoll-liebebereiten, altruistisch-freudefähigen Wesen erneuern und diesem Glauben gemäss eine gewandelte Weltanschauung gewinnen, die unser Alltagsdenken und -handeln dauerhaft ändert und neu verpflichtet!
Materialismus, Hedonismus, Idolismus, Fanatismus und Opportunismus danken ab, verkündet wird ein vernünftiger Idealismus, in dessen mild wärmenden Strahlen das goldene Zeitalter heraufdämmert.
Das Kunststück
Ein vernünftiger Idealismus strebt einem vernünftigen Ideal entgegen. Substanzmässig orientiert sich dieser vernünftige Idealismus m. E. am besten an der Beschreibung der idealtypischen Wesensgestalt des Menschen, der zur praktischen Realisierung eines vernünftigen Idealismus befähigt ist und dessen allmählich überwiegende Repräsentanz im jeweils zeitgenössischen Gesellschaftsganzen das friedfertig-freudvolle, glückhafte irdische Dasein des Einzelnen wie der Gemeinschaft verheisst.
Im Bewusstsein meiner zweifelhaften diesbezüglichen Berufenheit unterbreite ich hier eine hypothetische Fassung dieser Beschreibung:
Der idealtypische Mensch erweckt und entfaltet bei sich bzw. erwirbt und entwickelt Ausprägungen seines Wesens, die ihn befähigen, sowohl aufgeklärt und selbstbewusst wie edelmütig und gemeinwohlorientiert – in unbedingter Anerkennung der Gleichberechtigtheit und gleicher relativer Freiheit aller sowie des Prinzips des kategorischen Imperativs – eine persönlich erfüllende und zufrieden stellende und in gesellschaftlicher Hinsicht vertrauenswürdige und kreaturfreundliche Lebensgestaltung zu verwirklichen. Er pflegt im Allgemeinen eine besonnene, offene und philosophische Denkart, sucht nach bestem Vermögen lauter, konstruktiv, verlässlich, kreativ, initiativ und gewissenhaft zu handeln und politisiert gerechtigkeitlich, geschwisterlich und pazifistisch. Er gibt seinen libidinösen Bedürfnissen affirmativ im Rahmen achtungsvoller, empathisch-kultivierter Beziehungen und Formen Raum, versteht Wirtschaft und Technik als Mittel zur globalen Sicherstellung der Befriedigung von leiblichen und gesundheitlichen Grundbedürfnissen, gestaltet Kommunikation und Interaktion aufbauend, wahrhaftig, nachsichtig, humor- wie respektvoll und strebt nach der Vervollkommnung einer heiter-gelassenen, materiell-konsumativ bescheidenen Bewältigung bejahten Daseins …
Jeder einzelne von uns beginne schon heute mit der idealistischen Selbsterziehung und den entsprechenden Wirkungen auf Kinder, Familie, Nachbar, Freunde, Untergebene und Vorgesetzte, Öffentlichkeit, Konsum, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik! Jenseits von Rasse, Stand und Religion!
Eltern, Lehrer, Banker, Industrielle, Politiker, Klerus, „Blick“, Sat, RTL, Muslime, Juden, Christen, US-Amerikaner: Erzieht die euch Anvertrauten, die Anhänger, die Kunden, die Massen, die Völker im Geiste eines vernünftigen Idealismus und lebt ihn vor!
Alles bereit zum ultimativen Bravourstück: Salto spirituale!
Wenn Idealismus Wesen, Welt und Wandel überstirnt, lässt sich darunter in richtigem Leben richtig leben, gut und schön.