Konstruktive Skepsis 

Konstruktive Skepsis

Von Bernhard Benz

(Zum „Aufgefallen“: „Hat Gott vielleicht Flügel?“ von Brigitte Erni in der „Südostschweiz“ vom 17. Dez. 2008 und zum Leserbrief: „Ewiges Gesetz kann nicht geändert werden“ von Hansjürg Fitzi in der „Südostschweiz“ vom 19. Dez. 2008)

Mythen und Religionen sind Ausdruck des menschlichen Fragens nach dem Woher und Wohin, der Ohnmacht und der Angst des frühen Menschen vor dem unergründlichen Walten der Natur, der Sehnsucht des aus dem bergenden Uterus in die Welt geworfenen Individuums nach Geborgenheit, Schutz und Geleitung und des Bedürfnisses nach allgemeiner Anerkennung von Verhaltens- und Handlungsregeln, die ein gedeihliches Zusammenleben ermöglichen.
Ob der Kosmos sich aber darnach richtet, in welche psychischen Nöte und erkenntnismässige Bedrängnis sich eine seiner Kreaturen, eben der Mensch, gebracht sieht, und sich den anthropogenen Vorstellungen gleichsam nachträglich anpasst, ist, gelinde gesagt, sehr zweifelhaft.
Für viele Menschen scheint es zum Unmöglichsten zu gehören, unbeantwortbare Fragen unbeantwortet offenzulassen. Mythen, Religionen und ihre Gottheiten jedenfalls sind Konstrukte bedürfnismotivierten Suchens, Einbildens, Wähnens, in deren Dogmen und Gebote unter anderem auch Absichten des Begründens und Weisens, des Läuterns allzu triebnatürlichen Gebarens sowie persönliche Präferenzen ihrer männlichen Vermittler und Propheten eingeflossen sind.
Religionsskepsis bedeutet nicht Amoralität. Im Gegenteil: Während der Gläubige dem Willen einer transzendenten Instanz als Gesetzgeber und Richter zu gehorchen vermeint, aber seine Gebotstreue oft vom Stimulus durch Himmelslohnversprechen bzw. Höllenqualdrohung abhängig macht, plädiert eine humane Pflichtlehre, die die Gottesfrage als unbeantwortbar offenlässt, für die artgerechte (!) Zuständigkeit und Verantwortung des mündigen Menschen für die Regelung und Einhaltung einer geschwisterlich gerechten Gesellschaftsordnung, und zwar unter Ächtung subjektivistischer Beliebigkeit. Emotionale und vernünftige Begabung des Menschen sind hinreichend, die Kardinalfrage angemessen human zu beantworten: Welche Eigenschaften sollen die mich umgebenden Menschen (einschliesslich meiner selbst als Teil der Umgebung anderer!) notwendig besitzen? Die vernünftige und wohl hoch konsensfähige Antwort lautet: Sie sollen ehrlich, gerecht, anständig, hilfsbereit, rücksichtsvoll, zuverlässig, bedürfnisbescheiden und friedfertig sein und jedem gleich viel persönlichen Entfaltungsraum zugestehen. Damit sind die „kategorischen“ Kriterien bezeichnet, an denen sich Erziehung und Bildung, Recht und Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien verpflichtend zu orientieren haben und die auch bei Spiel, Sport und Zerstreuung ihre Leitgeltung behalten.  Faktisch aber stehen Weiblichkeitlich-Religiöse und Aufgeklärt-Pflichtethische melancholisch vereint Seite an Seite und blicken fassungslos auf die egomane Konsumberserkerei einer milliardenköpfigen Herde und auf die nach wie vor allpräsenten Tatorte des läuterungsresistent gewaltgeprägten Machismo.

(Kaltbrunn, Ende Dezember 2008) 
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