Robert Walser – ultimative Bekanntmachung!

Zum 125. Geburtstag des grössten Schweizer Poeten am 15. April 2003

Robert Walser – ultimative Bekanntmachung!

Von Bernhard Benz

Wir Menschen sind die Gemeinschaft der traurigen Insassen der globalen Unheilanstalt.
Sind wir uns dessen und der diesbezüglichen Unentrinnbarkeit bewusst? Spazieren wir vielleicht reihen-, scharen-, völkerweise der Herberge „Zur schönen Verzweiflung“ entgegen, uns höflich, artig, gar in kunstreichen Wendungen über das hierzu Sagbare unterhaltend und diese schicksalsgehaltliche Beschäftigung mit honetter Selbstironie und kurzweilstiftenden Clownereien garnierend?
Nein – jedenfalls die grossen Haufen kennen dergleichen Tun und ähnliches nicht, vielmehr treiben sie alles Gegenteiligere, z. B. sich zerstreuen, flüchten.
Sobald nämlich das heranwachsende Individuum Anmutungen seines Selbst mehr erahnt als erspürt oder gar begreift, trachtet es – üblichenfalls – den Aussenweltlichkeiten im dilemmatischen Gespinst des vordergründigen Sichbehauptenwollens, Sichbehauptensollens, Sichbehauptenkönnens zu erliegen. Genauer: Es zerstreut sich oder flüchtet – vorzugsweise zu Kollektiven wie Gruppen, Anhängerschaften, Gesinnungsgenossenschaften, Völkern, Massen verklettet – z. B. in Konsumtionismus, Drogen- und Technologierausch, Idolvergötzung, Körperbildwahn, ideologischen oder religiösen Fundamentalismus oder gar Militarismus.
Und das ist, gelinde gesagt, bedauerlich.
Wo doch Kafkas Türhüter für jeden von uns den nur für den Einzelnen bestimmten Einlass zum lebenslang wenigstens scheinbar idyllischen Selbsterkennen offen hält: Treten Sie ein, meine Damen- und Herrschaften, solange Sie noch selbst urteilen können! Treten Sie ein ins Zauberreich der schönen und Ihre edelste Empfindsamkeit erweckenden Wirklichkeits- und Sprachwahrnehmungen, -beseelungen und -kunstdarstellungen Robert Walsers!
Draussen lassen müssen Sie Eitles, Dummes, Überflüssiges wie Machtstreben, Karrieresucht, Publizität, Schminke, Börse, Computer und Handy.
Lassen Sie vielleicht zuerst Walsers Erzählung „Der Spaziergang“ oder seinen zweiten Roman „Der Gehülfe“ in Ihr Gemüt fluten! Tauchen Sie ein und ab in „Geschwister Tanner“, „Jakob von Gunten“! Lassen Sie sich affizieren, will sagen läutern durch hingabetrunkene Lektüre einiger Dutzend seiner Kurzprosatexte! Lechzen Sie gefl. ferner umgehend darnach, einer Buchwelt anheimzufallen, die Sie wie folgt empfängt: „Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr.“!
Als guter Durchschnitts- oder Ausnahmeschweizer müssen Sie dies tun! Als Suchender, als freundlicher Mensch, als Menschenfreund oder -feind ist es die gewinnendste, angenehmste, schönste Pflicht!
Alsdann und wann werden Sie sich womöglich mit schönem Papier an einen Tisch, an ein Pult setzen und langsam und lächelnd und mit Schönschriftfleiss einem lieben andern Menschen schreiben, wie und was Sie nun und gerade denken und empfinden. Und Sie werden wieder spazieren und sich des Freuenswerten freuen und sich den geheimnisvollen Silberklängen des Wehmütigen und Sehnsüchtigen hingeben, die durch Ihr laues, blaues Herz streichen. –
Daneben aber verrate ich gar nichts über das Elixier des Walser-Lesens, ausser: Mit Robert Walser betreten Sie eine Art Seelenentfaltungsstätte, Heilinstitut. Wer nicht eintreten kann, dürfte vielleicht bereits zum heillos zeitgeistbeschädigten Trendhörigen, zum halben Roboter mutiert sein …

(Kaltbrunn, März 2003)
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