Inversion oder Anekdote und Wirklichkeit

Inversion

oder

Anekdote und Wirklichkeit

Von Bernhard Benz 

A und B stehen seit wenigen Augenblicken erst beisammen. A fragt: „Wie geht’s?“ Anstatt eine Antwort zu geben, wirft sich B umständelos in eine Art gesässwärts hochgereckten Liegestütz vor und füsselt mit beinahe durchgestreckten Armen wie Beinen unter Hervorbringung eines trickfilmmanierhaften, vibranten Glöckelgeräusches auf Finger- und Zehenspitzen in ungeregeltem Figurenverlauf auf einem gut absehbaren Teil des Geländes, das dem Standort unserer beiden Personen beigegeben ist, munter hin und her. Nach Kurzem schon ruft A dem gerade in Absolvierung einer etwas entfernter ausgeholten Geläufsschleife begriffenen B zu: „Alter Legastheniker! Komm her, haha! – Wie geht’s, habe ich gefragt!  G e h t ’ s, -t’s, -te’-es! Nicht: Wie  g e h s t!“
So weit die Anekdote.

Was aber ein allfälliges Interesse an der Referenz zum tatsächlichen Geschehen betrifft, so werden durch dasselbe Ergänzungen veranlasst und Berichtigungsäusserungen evoziert.

Wirklich und wahr ist, dass die beiden Personen zwei junge Frauen waren: Hinter A verbirgt sich Klara; und Carla, die andere, war demnach ausersehen, in der B-Rolle zu figurieren. Bemerkenswert ist ferner, dass beiden Mädchen ein ausnehmend hübsches Gesicht gegeben war, Carla dazu noch eine Gestalt von reizend graziler Komposition. Und wenn die Dinge bzw. Sachverhalte schon genauer geklärt werden sollen, muss Erwähnung finden, dass Letztere ein weisses, spitzenbesetztes, knapp knielanges Sommerkleidchen trug und dass ihr schwarzes, lockig auf die Schultern herabfliessendes Haar in den unteren Partien, bei näherem Hinsehen, wie leicht bestaubt wirkte.

Tatsachengemäss aber sind in der Anekdote die gefallenen Äusserungen wiedergegeben, wenn man davon absieht, dass für „Arme Legasthenikerin“ täuscherisch „Alter Legastheniker“ montiert wurde.

Nicht wahr hingegen, ja geradezu eine übelste voyeuristische Phantasterei ist, zu berichten, dass Carla bei ihrer unschuldig-irrtümlichen – wenn, dann zu Unrecht ihr als Kaprice vorgeworfenen – Gehdemonstration der Rock vom Gürtelchen an bis über die leicht am Boden streifenden Haare hinunter zurückgefallen sei, weil sie in eher handstandähnlicher Position geschritten sei, dass dabei ferner nichts Trickfilmartiges vorgefallen sei, sondern vielmehr die märchenhaft schönen Beine unter den anmutvollsten Balancierbewegungen durch die milde Spätsommerluft gewippt hätten und ein zauberhafter Ausblick auf ein zierliches, blütenweisses Dessous, welches in offenbarungsreichster Delikatesse knapp über zartgekurvte und sanftmündende Mädchenpartien gestreift gewesen sein soll, gewährt worden sei.

Ebenso unwahr, wenn auch aus mannstypisch naturhaft erweckter Affektstimulierung heraus schön erfunden ist demnach zwangsläufig auch, dass ich als zufälliger Passant Zeuge eines solchermassen berückenden Geschehens gewesen sein könnte und mir dabei der Atem – vorübergehend – gestockt haben soll.

Dagegen fast fraglos wahr wieder ist, dass sich das ganze Geschehen in einer Art von schriftgefasster Realität abgespielt haben muss, weil sich andernfalls kaum das schicksalhafte Legastheniesymptom hätte einstellen können.

*

Eine sozusagen im letzten Moment echauffiert herbeistürzende liebe Freundin, die schon zu wiederholten Malen ihre ernste und vorrangige Wahrheitsverpflichtetheit undiskutabel unter Beweis gestellt und daneben auch manch Verdienstliches für die Sache des unterdrückten Mannes geleistet hat, meldet nun dringlich, dass einige ihrer vertrauenswürdigsten Gefährtinnen durch wunderliche Fügung als mithin aber glücklicherweise unbestechliche Augenzeuginnen der oben vermeintlich halbwegs geklärt dargestellten Begebenheit beigewohnt hätten. Sie hätten dabei – in unanzweifelbarem Vollbesitz ihrer Sinne – nichts anderes als „das kuriose, fast degoutante Gebaren zweier kiltgeschürzter, kräftiger Britannienschweizer mitverfolgen müssen“.

Ja …, ich weiss nicht recht … Ich bin ja nicht aussergewöhnlich argwöhnisch, aber … – und zudem war die leicht erotistisch anmutende Passage mit Carla ja nur im Interesse einer entschiedenen und durchaus empörten Dementierung notwendig geworden und ausserdem nur für die Rezeption in einem kleinen Kreis sprachwissenschaftlich Befasster bestimmt gewesen.

Je nun, wenn die zwar nach wie vor oder erst recht widersprüchliche Faktenlage aber immerhin eine Ereignisebene physisch abgewickelter, wenn auch hinsichtlich personaler und verhaltensmässiger Umstände nicht tatsachenrelevant verlässlich behauptbarer Wirklichkeit vorauszusetzen nahelegt, dürfen wir zum Schluss doch wenigstens einigermassen getrost das Terrain glaubwürdiger Begründung des Zustandekommens des dem Ganzen zugrunde liegenden Inversionsversehens betreten. Nebenbei will auch erwähnt werden, dass ich mich mit dem Leser in die Einschätzung teile, die hier unterbreitete Affäre tangiere allmählich einen (zwar zu Beginn nicht zwingend antizipierbaren) Bereich gern entbehrter, ja unangenehmer Ausweitung. Jetzt jedoch zeigt sich das noch zu sagen Verbleibende als Gegenstand beachtlicher und erfreulicher Kürze: Da nämlich unumstösslich und definitorisch vereindeutigt wissenschaftlich feststeht, dass der Begriff Legasthenie dem Phänomen einer mehr oder weniger eklatanten Leseschwäche zugeordnet ist, müsste die Initialfrage „Wie geht’s?“ – und eine andere Erklärung von zureichendem Plausibilitätsgrad ist nicht aufspürbar – müsste also die Initialfrage arglistig oder in launiger Anwandlung von der nichtlegasthenischen Person auf einem von ihr vorsätzlich mitgeführten Schild der legasthenischen anlässlich ihres gar nicht so gewiss vorhersehbar gewesenen Zusammentreffens präsentiert oder von Ersterer der andern mittels unherzliche Berechnung verratende Zettel- oder Displaynotiz schrift- bzw. leseaktlich übermittelt worden sein – fürwahr eine anekdotenreife Situation!

(Kriessern,1982; Kaltbrunn, 2010, an einigen Orten geringfügig [vermeintlich] verbessert)
Druckversion (PDF)