Wider die Herren der Dinge! 

Wider die Herren der Dinge! 

Von Bernhard Benz

Einiges Verständnis und beipflichtender Applaus wären einem Kritiker sicher, der sich hocherregt auch der schmähendsten Begriffe bediente, um angesichts der angloamerikanistisch globalisierten Trash-’n‘-Cash-Gesellschaft, deren Phänomene längst auch das öffentliche Leben der Schweiz bestimmen, sich in einem Empörungs- und Verdammungslamento zu ergiessen. Aber es wirkte irgendwie unsouverän, wie halbverzweifelt selbst im Dreck steckend und misanthropisch und röche nach Pharisäertum. Nein, da muss man sich drüber wissen, die erlesene Fähigkeit des klug Erhabenen und gleichzeitig mit feiner Selbstironie ausgestatteten Humorvollen menschenfreundlich ins Spiel bringen und frei von Herablassung hilfreiche Rezepte unter die im weltweiten Moraste sich suhlenden Abermillionen von trieblich und ökonomistisch Aussätzigen streuen. 

Das Grundanliegen dessen, was hier anfolgend geschrieben steht, kann zwar Weltgeltung beanspruchen und bezieht sich jeweils sinngemäss übertragen auf die realen Menschengemeinschaften aller Grössen und Formen, wendet sich aber an dieser Stelle ausdrücklicher und dem hier vorgeschlagenen Vorgehen nach an Bürgerinnen und Bürger demokratischer Gebilde, wie z. B. eines Staates, eines Kantons, einer Kommune. An Bürger/innen übrigens, die nichts so sehr verabscheuten, als zu Recht des beschämenden Mangels bezichtigt zu werden, den Ausgang aus der (teilweise) selbstverschuldeten Unmündigkeit noch nicht genommen zu haben. Aus aktuellem Grunde noch konkreter gesagt, werden hier die Wahlberechtigten des Kantons St. Gallen angesprochen, denen gleichsam in einem Akt der Entblendung die Mittel in die Hände gespielt werden wollen, nach deren Anwendung sie sich als Wegbereiter/innen der längst fälligen Umwertung gesellschaftsrelevant praktizierter Werte respektable Verdienste erwürben.

Die drei anlässlich der anstehenden Wahlen anzuwendenden Initialrezepte lauten:

1. Wähle grossmehrheitlich Frauen, und zwar nur „weibliche“.

2. Wähle jene Personen, die publicitymässig am wenigsten in Erscheinung treten.

3. Wähle nur Personen, die Parteien bzw. Weltanschauungen vertreten, die den kategorischen Imperativ als das kosmopolitisch durchzusetzende ethische Prinzip vorbehaltlos anerkennen und ihre Politik daran orientieren.

Begründungen:

Zu 1. Die bisherige Entwicklung des Menschen erweist sich als Prozess einer kontinuierlich radikalisierten Dominanz des männlichen Prinzips, jenes unablässigen, rast- und ruhelosen, begehrlichen, erraffenden Objekt- und Besitzstrebens, das sich heute als totale globale Güterfixiertheit manifestiert. Dem weiblichen Prinzip dagegen entspricht eine ganzheitliche menschliche Wesensart, die ihre Heimat in sich hat, eigenwertbewusst und selbstgenügsam, von Natur aus auf Harmonie und Vollendung angelegt (stark vereinfacht nach Lou Andreas-Salomé). Also kurz: Der hochdringliche Paradigmawechsel für die weltgesellschaftlich bestimmenden Relevanzen vom männlichkeitlichen zum weiblichkeitlichen Grundverhalten ist unverzüglich einzuleiten. Achtung: Die kulturelle Dekadenz ist auch am konkreten heutigen Frauentyp nicht spurlos vorübergegangen. Und: Die individuelle biologische Geschlechtlichkeit einerseits und die bestimmenden männlichen bzw. weiblichen Wesensintentionen anderseits bedingen sich nicht deckungsgleich, können zuweilen zueinander kontrastieren. Daher würde z. B. die Wahl einer burschikosen, testosterongebeutelten, dreisten, karrieristischen (kurzhaarigen) Frau unserem Anliegen besonders perfid schaden!

Zu 2. Friedrich Nietzsche, ein ebenso hoch begabter Intellektueller wie extrem männlichkeitlicher Philosoph, hat den alles leitenden und bewegenden naturangelegten Trieb alles Lebendigen von der Zelle über die komplexe Kreatur bis zum menschlichen Individuum und zum Verband Gleichgesinnter, die vorrangige universelle Wirkkraft, als den „Willen zur Macht“ bezeichnet (ohne die Notwendigkeit eines vernünftigen, ethischen Korrektivs zu postulieren!). Vielen Menschen gelingt es nicht, diesen Machtinstinkt vernünftig, ethisch oder religiös zu läutern. Geradezu unsäglich geht’s bis heute auf dem Felde der Politik zu und her, wo namentlich vor Wahlen zahllose kleinere bis schillernde Charaktere mit beispielloser Unverschämtheit ihren persönlichen Macht- und Vorteilszuwachs mit altruistischen, gemeinwohlorientierten, menschenfreundlichen, fortschrittsbekümmerten u. ä. Parolen und Verlautbarungen aller Scheins- und Täuschungssorten bemänteln oder verschleiern, um sich Egoismus und Publizitätssucht demokratisch-institutionell legalisieren zu lassen. Die Ärgsten preisen sich am aufdringlichsten an, während die theoretisch Vertrauenswürdigsten unter den etablierten politischen Umständen eher selten überhaupt auf den Wahllisten figurieren. Den relativ Integersten der Wählbaren steht am wenigsten „Interessen“-Werbekapital zur Verfügung; die Guten und Weisen sind die Behutsamen und Leisen.

Zu 3. Immanuel Kant, einer der grössten Denker aller Zeiten, ist seit 200 Jahren tot  war aber seiner Zeit wohl um 250 Jahre oder um die Ewigkeit voraus. Wenigstens die Quintessenz seiner umfassendsten und gewissenhaftesten moralphilosophischen Erkenntnissuche ist für alle verstehbar formuliert und, noch wichtiger, kann von allen Menschen, egal ob ihre Weltanschauung eher von säkularen oder von religiösen Begriffen und Bekenntnissen geprägt ist, gebilligt werden. Der Kernsatz der kantschen Ethik, der so genannte kategorische Imperativ, lautet: „Handle immer so, dass der Leitsatz deines Handlungswillens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Gut ist demnach nur, was den gleichberechtigten Anspruch aller beachtet, und nicht, was der subjektiven Neigung huldigt (zumindest im Kontext sozial relevanten Handelns).
Die Politik der bürgerlichen Parteien ist heute rein sach- bzw. sachwertorientiert und krämerhaft, ihre Repräsentanten belächeln ethisch motiviertes Interagieren als vorgestrige idealistische Spinnerei und diffamieren und verhöhnen entsprechend Lebende und Politisierende als „Gutmenschen“ (ähnlich Unmenschen). Aktuelles bürgerparteiliches Argumentieren basiert hauptsächlich auf einer eingeengten, hedonistisch verzerrten Version des klassischen Utilitarismus (Bentham, Mill), die in der Praxis zu einem egoistisch-materialistischen Nutzenkalkül pervertiert.
Bertolt Brechts „Zuerst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ gilt nur für physisch Verhungernde, und nur aus ihrem Blickwinkel. Doch die heute zu blossen Konsumwesen degenerierten „viel zu Vielen“ ignorieren benebelt die augenfällige Wahrheit: Nach dem Fressen kommt erst recht keine Moral, sondern das Mehr- und Mehrfressen, das Voll- und Überfressen, das gegenseitige Auffressen 
in allen von der ethischen Vernunftkontrolle entkoppelten Verwirklichungsweisen der instinktgeleiteten Triebnatur des Säugetiers.

(Kaltbrunn. Zeitungsleserbrief in „Die Südostschweiz“ vom 1. März 2004) 
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