Weltbewegend? (Mobilitätsgeschichtliche Skizze)

Weltbewegend?
(Mobilitätsgeschichtliche Skizze)

Von Bernhard Benz

Kann ich Sie umständelos – und ohne bezifferbaren Gewinn zu versprechen – dazu bewegen, mir mit ebenso vagen Vorstellungen, wie es die meinigen sind, zurück in die Zeit des Pithekanthropus zu folgen? Darf für jene Epoche vielleicht, ohne sich deshalb der ausgreifendsten Torheit selbst bezichtigen zu sollen, im Nachhinein behauptet werden, dass primär instinktgeleitete körperliche Beweglichkeit als Ausdruck der Vitalität und des Überlebensdranges aufzufassen ist und eine zunehmende Geschicklichkeit und Zweckgerichtetheit des Sichbewegens für einen Teil die Entwicklung hin zum Homo sapiens bestimmen?
Wenn dies, so auch das Folgende? Der nomadisierende prähistorische Mensch sodann bewegt sich immer noch vehikellos, aber lokal zuweilen doch grossräumiger im vorherrschenden Interesse einer naturquellenbedingten Nahrungsbeschaffung.

Später treffen wir beim sesshaft gewordenen Menschen teils eine durch Viehzucht und Nährpflanzenkultivierung reflektiert ersparte körperliche Mobilitätsaufwendung wie aber teils auch wegen für wachsende Sippschaften enger werdender Lebensräume eine expandierungsmotivierte kriegerische Mobilisierung an; zudem bricht mit der Erfindung des Rades die Zeit des mittelhaft-mechanischen Bewegens an.

Für die nächsten vier bis fünf Jahrtausende kann man von einem Kontinuum sowohl einerseits wachsender kognitiver wie anderseits auch körperlicher und mechanischer Mobilität sprechen, die sich sozusagen verträglich, ja gegenseitig konstitutiv entfalten und zum einen der sich differenzierenden Existenzbegründung und -erklärung wie zum andern der Prosperität von Güterproduktion, Handel, Erkundung, Wissenschaft, Kultur und Musse dienen, die Entwicklung raffinierterer Kriegsmaschinen ausgenommen. Wenn wir so wollen, steht dem gleichzeitig in gewissem Sinne eine vor allem durch monotheistische Religionen inspirativ gewonnene und ethisch begründete Verklärung der Entsagung gegenüber trieblicher, wirtschaftlicher und kriegerischer Mobilität in Form einer eher statisch-kontemplativen Erharrung jenseitiger Seligkeit entgegen.

Bricht nun aber nicht mit millionenfachem Rädersurren das industrielle und technische Zeitalter an, in dessen Verlauf wachsende subalterne Menschenmassen sich herdenartig durch Fabriktore ein und aus schleusen? Schienenstränge kreuzen und queren die Landschaften, und die Kapitalabschöpfenden bewegen sich bald in automobilen Kabinen oder in ersten Flugapparaten von Banken zu Bädern und zurück.

Symbolhaft begleitet durch die illusionistische Movies-Maschinerie zieht die jüngste Epoche herauf, die ins geräderte angloamerikanisierte Heute mündet. Mobilität pervertiert sich: Auf der vergeblichen Suche nach ihrer verlorenen Eigentlichkeit, will sagen nach spiritualitätsentbundener, trieb- und dingweltfixierter Lustgewinnmaximierung wimmeln und hecheln Abermillionen im mittlerweile erstickend eng gewobenen globalen Netzkorsett der Verkehrswege; in den Bäuchen der Herdenartigen rumpelt störanfällig noch ein eventhungergetriebener Motor, die rationale Mobilität des Individuums aber ist paralysiert: Opfer von Erziehungsverzicht, Massenverdeppung, Ökonomieabsolutismus, virtualistisch zerfratzter Wahrnehmungsfähigkeit, Rauschmitteln und subtil gesteuerter androidogener Computerkompatibilisierung. –

Aber das Heute neigt sich zum Abend: Das Rad rollt gleichsam in sich und entstürzt – und mit ihm die Herrschaft des männlichen Prinzips, des a priori untergangsbestimmten objektstrebigen Glücksding-Erbeutens. Herauf dämmert mit blütenduftender Aura das menschliche Sternzeitalter des weiblichkeitlichen Sichselbstgenügens. Grund, Mittel und Ziel ganzheitlichen Sinnens und Behagens werden als im Subjekt liegend erkannt. Das bezeichnendste Kriterium der Lebendigkeit ist nun das bewegte Spiel um den Kern im Innern der freundschaftlich-gelassenen, ruhevollen Menschenwesen im Schosse eines zeitlos perpetuierten wohlwollend-empathischen Gewirks friedeverfügter Geschwisterlichkeitsentfaltung.

(Kaltbrunn, Frühling 2004) 
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