Roboterisierter Primat oder Mensch?

Roboterisierter Primat oder Mensch?

Polemisches Übungsstück

Von Bernhard Benz

Seit einigen Jahrzehnten ist der waltende Zeitgeist universell und omnipräsent geprägt von einer zunehmend totalitären Verdinglichung aller weltgesellschaftlich bzw. existenziell erheblichen Belange und deren verabsolutierter Ökonomisierung. Hinter dem Banner des wachstumstrunkenen Neoliberalismus marschieren Wirtschaft, Finanz, Politik, Bildungsinstitutionen, Technologie, Medizin, Justiz und Massenmedien im Gleichschritt und huldigen dem Credo einer blind vorausgesetzten Perpetuierung des warenproduktions- und konsumationsmaximierten Augenblicks und gewähren den Subjekten der milliardenköpfigen Herde expansiv alle schlechthin reklamierbaren diesbezüglichen Rechte, ohne Pflichten auch nur noch (oder allenfalls mokant) zu benennen. Im globalisierten freien Markt finden die rücksichtslosesten, dreistesten, skrupellosesten und kriminellen Charaktere ihr optimales Entfaltungsterrain vor und bestimmen – häufig auch anonym, inoffiziell oder maskiert – die Geschicke der gegenwärtigen Welt und ihr ethisches Klima. Und diesem Klima ist ein exzessiv forcierter, „menschenrechtlich“ parfümierter scheinbarer Individualismus aufgedrungen. Indem nämlich am Kind von Geburt an strikt jede beliebige instinktive Regung geschützt und gefördert, sein gesamtes Begehren und Verlangen – und sei es noch so mutwillig oder ungedeihlich – allzeit mit eiliger Willfährigkeit befriedigt wird und es ab der Wiege mittels zahlloser elektronischer Geräte (oft gar immens dosiert) unerklärlichen automatisierten Funktionen und lebensweltwidrig simulierten „Wirklichkeiten“ ausgesetzt ist, was u. a. die natürliche Erfahrung von kausalen Zusammenhängen, das empirisch-logische Folgern und die Entfaltung einer kreativen Phantasie behindert, dagegen aber digitaler Demenz fatal Vorschub leistet, und Jugendliche wie Erwachsene zum bedingungslosen persönlichen Anspruch auf triebgeprägtes Willkürverhalten, zur schrankenlosen Befriedigung leiblicher Übersättigungsbedürfnisse, zum hollywoodlike idolorientierten Körperkult sowie zum Dauergebrauch alle Eigenvorstellungswelt verödender, Anstrengung und Eigenleistung ersparender und fähigkeiten- und fertigkeitenminimierender technologischer Geräte und zur besinnungslosen Einnahme von pharmazeutischen Produkten in allen noch so gewähnten oder gar gegenstandslosen Bedarfsfällen unter pausenlosem werblichem Bombardement aufgefordert werden und einer solcherart gelenkten Lebensführung sich grossmehrheitlich widerstandslos bis geradezu leidenschaftlich gern anheimfallen lassen …, beschreitet der Mensch aber – weithin unvermerkt, ja irrig fortschrittsgläubig – tatsächlich den Weg seiner wesensmässigen Degeneration.

Die Propagierung und allgemein so gut wie uneingeschränkte Gewährung bzw. vorauseilend ergeben verwirklichte Praktizierung des Entfaltens und Auslebens möglichst aller animalisch-instinktiven und libidinösen Triebregungen, die rigorose Quotenausrichtung der Massenmedien, d. h. deren folglich zunehmend enthemmter trivialisierte und banalisierte Publikumsbeeinflussung, die durch Tiefstnivellierung nach Massgabe der bildungsresistentesten und verhaltensgestörtesten Kinder preisgegebene Orientierung der Volksschule an Bildungsidealzielen bzw. deren berufsvorbereitungs-, markterfordernis- und konsumtauglichkeitsgeleitete sowie v. a. hortnerische Zwecksetzung, die nahezu einhellige (Ver-)Schmähung von Geduld, Anstrengung, Aufmerksamkeit, Redlichkeit, Anstand, Zuverlässigkeit, Gründlichkeit, Fleiss und Durchhaltewillen, die Entfähigung bzw. das Entbinden vom Gebrauch eines eigenen und optimal geförderten und geschärften Denkens sowie die Entwöhnung vom Sublimierungs- und Verzichtsvermögen und endlich die Ächtung von Selbstzucht und -beherrschung und Widerstandskraft verhängen dem (erstmals von Linné im 18. Jh.) nicht frei von Hybris so bezeichneten „Homo sapiens“ – entgegen dem Anschein der zivilisatorischen Tünche – den nur von wenigen Trendkritisch-Mündiggebliebenen erkannten Rückfall in den Säugetierstatus. Die ignorante Marginalisierung oder gar Verfemung spirituellen, philosophischen Strebens und das Verlachen der Idee einer essentiellen charakterlichen und gesinnungsmässigen Veredelung besiegeln die Kennzeichnung der Spezies durch den grössten gemeinsamen Nenner eines kaum noch spezifisch achtbareren Primatentums, tilgen auch noch die letzten zäheren Rudimente des Einzigartigkeitspotenzials der Gattung und führen statt zur möglichen Besonderung (Individualität) des Einzelnen zu seiner Einverleibung im Animalisch-Allgemeinen …

Mit einem Seitenblick auf die Schweizer Politik sei nebenbei noch angemerkt, dass man beispielsweise im ostinaten Appellieren an die sog. Eigenverantwortung – zwar nicht dem Begriffe nach, aber gemäss aller Erfahrung und begründeten Einschätzung des sozialen Gebarens und entsprechend der Beobachtung der (wirtschafts-)politischen Präferenzen der Akteure, die jenen Terminus am insistentesten postulieren bzw. allzeit auf dessen unbedingte Vorrangigkeit pochen – wohl nichts anderes zu erblicken hat als das inbegrifflichste Exempel euphemistischer Verbrämung und zugleich des also verschleierten unbeirrbaren Willens zur Durchsetzung eines möglichst schrankenlosen (urinstinktmotivierten) Egoismus. –
(Als Agnostiker will ich auf die [schwindende] Bedeutung der Rolle religiöser Bekenntnisse bzw. Gemeinschaften im gegenwärtigen Welttheater nicht substantieller eintreten und begnüge mich hier mit dem Anfügen dreier [diesbezüglich gegenstandsnaher] fussnotenartiger Anmerkungen: 1. Bei den meisten grösseren Glaubensgemeinschaften erodiert unter dem Druck der [zeitgeisthörigen] „Gläubigen“ die Unverbrüchlichkeit „göttlicher“ Gebote, an deren Stelle zunehmend das gütige Einräumen einer diffusen, opportunistischen Bleib-wie-du-bist-Beliebigkeit, verbunden mit gelegentlicher Einladung zum gemeinsamen Brunchen, tritt. 2. Die sog. Religionsfreiheit sollte nur Angehörigen jener Gemeinschaften gewährt werden, deren [heutige] Lehre und Praxis Gewaltlosigkeit bzw. Pazifismus als unerlässliche Voraussetzung einschliessen. 3. Ernsthafter humanistischer Agnostizismus zeichnet sich nicht durch ein geringeres, sondern ein gehobeneres ethisches Bewusstsein aus, insofern dieses sich mündig-vernünftig begründet, [anthropologisch] rechtfertigt und als handlungsweisend auffasst [und den Einzelnen also nicht biederschlau rufbedacht zwischen Paradiesversprechen und Höllendrohung mythischen oder mystifizierten Diktums sich durchzulavieren zu trachten veranlasst] und in der unabdingbaren Respektierung des kategorischen Imperativs als des verinnerlichten Handlungs- und Verhaltens-Idealleitprinzips wurzelt.) –

… Der also zum Business-Vehikel depravierte, seiner im allmählichen Kultivierungsprozess entwickelten Anlagen, Fähigkeiten, Zuständigkeiten und Autonomien sowohl körperlicher wie vor allem geistiger Ausprägung nunmehr wieder nach und nach – systemstrukturell bedingt und verhängt – beraubte einstige Mensch ist heute in jene Bedürftigkeit gestürzt, die sich in intendierter allgemeiner Ohnmacht und fataler Abhängigkeit, in endlos sich emporschraubender Nachfrage nach passiv-konsumptiv sich zuzuführenden Surrogaten und in einem eminenten Bedarf an „prothetischen“ Hilfen technologischer, psychologischer, sozialer, medizinischer, esoterischer und zerstreuungsorganisatorischer Art aufs pitoyabelste äussert, aber den (infamen) Hauptzweck erfüllt, die stetige Beschleunigung und Befeuerung der Rotation der spiraligen Angebots-/Nachfrage- bzw. Herstellungs-/Verbrauchs-Marktmaschinerie zu gewährleisten .– (Randnotiz: In der epidemischen Verbreitung des motorartig-monotonen Raps erblicke ich ein starkes Indiz für den ebenso ominösen wie bezeichnenden Hang des reduzierten Menschen zur Mechanisierung seines Wesens bzw. den Erweis der diesbezüglich schon zügig vorangeschrittenen Mutation.) – Dass heute die allgemeine und in Bezug auf eine angemessenste artgerechte Bildung erstrangige (muttersprachliche!) Vermittlung eines komplexen und differenzierten Sprach- und damit dito Denkvermögens arg vernachlässigt wird und demzufolge quer durch alle Gesellschaftsschichten der erdrückenden Mehrheit der Zeitgenossen verwehrt bleibt, anregend-anspruchsvollere Literatur noch zu verstehen, Existenz und anthropologische Relevanzen und Gedeihlichkeit zu reflektieren, Manipulation zu erkennen und kompetent bedeutsame und gehaltvolle Kommunikation zu pflegen, vervollständigt das lamentable Bild des Niedergangs der Spezies.

Chefs, Leiter und PR-Beauftragte von Firmen, Organisationen und Institutionen garnieren beispielsweise ihre bei jeder sich bietenden oder selbst inszenierten Gelegenheit abgesonderten Verlautbarungen in lehrbuchgetreuer Managementmanier mit den nicht näher bestimmten bzw. verifizierbaren Imponierbegriffen wie Qualitätscontrolling, Innovativität, Kompetenz und Transparenz und flechten als Draufgabe nicht selten auch noch das (geradezu grotesk unzutreffende) Schlagwort von der Wissensgesellschaft darein. Mit diesem Gebaren suchen sie Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit ihrer eigenen Funktion zu unterstreichen, zu insinuieren, dass alles zu jedermanns Bestem bestellt sei, und dem Fussvolk dessen etwa keineswegs gering geschätzten Beitrag zur Prosperierung des Unternehmens oder Gebildes sowie Ernstnahme und Wertschätzung seiner Ausbildung, Fähigkeiten und Tüchtigkeit – häufig im Gestus Verdacht erregender Jovialität – glaubhaft zu machen. Mir aber liegt eher daran, die ungeschminkten Tatsachen anzusprechen:

Der in den Prozess psychischer und intellektueller Reprimitivierung getriebene („reduzierte“) Mensch verfügt nur noch über wenig eigen- oder alleinverdienstlich leistbares Können und Vermögen und erweist kaum noch selbstständig errungenes und erkanntes Wissen, weder jobbezogen noch allgemein bzw. privat, ist so gut wie allzeit auf oberflächlichen Fun und Spass erpicht und hält keinen ernsthafteren Belastungen mehr stand, all dies ohne dass noch nach beruflichem oder gesellschaftlichem Rang zu unterscheiden Veranlassung gegeben ist. Doch es werden ihm – damit er sich nicht weiter darüber aufhalte, den Verlust der ungefragt „amputierten“ Qualitäten etwa zu bedauern oder überhaupt zu bemerken – in grosser Fülle (wie ich sie nenne) „prothetische“ Hilfen angeboten, gereicht oder aufgenötigt und ihr Gebrauch mehrheitlich aufwendig und penetrant beworben: Computer, Internet und der Wust an elektronischen Kleingeräten, schulische Inklusion, Care-Teams, Therapien, Coaching, Betroffenen-Kreise, automatisierte Fahrzeuge und Küchen, 3-D-Drucker, vorgefertigte Mahlzeiten, Nahrungsergänzungsmittel, Walking-Stöcke, Psychopharmaka, kosmetische Operationen inkl. Fettabsaugen, justizielle Nachsicht, tägliche Events und vieles mehr. Markt und marktorientierte Wissenschaft und Technologie aber bahnen unterdessen die (vorläufige, nicht weitsichtiger und grundsätzlicher problematisierte) „Endlösung“ an: Mittels Genmanipulation und Implantaten wird der Mensch zielstrebig roboterisiert, während zugleich die industrielle Anthropoidisierung des Roboters vehement vorangetrieben wird, bis …, ja, bis beide sich im gleichen Stadium künstlicher Physiognomiertheit und programmierter Automatisation ununterscheidbar treffen, vermischen und vereinen. Theoretisch bestünde ja dannzumal vielleicht die Aussicht, dem roboterisierten Menschen bzw. kunstmenschlichen Roboter eine vornehme, empathisch-friedsame Wesensart einzuprogrammieren, aber aus der Perspektive des gegenwärtigen Standes der Dinge notwendig skeptisch veranschlagt, wird ihnen/ihm wohl eher ein unversiegliches Konsumations-, Verbrauchs- und Zerstreuungsverlangen eingespeist werden.

(Wahrscheinlicher aber noch ist, dass die „robotomobilen“ Figuranten jenes vielleicht nicht mehr allzu fernen, vielleicht von heute aus zu Unrecht als dystopisch vorverurteilten Zeitalters – längst von Eigenwillen, Empfindungen und aktiven Gehirntätigkeiten befreit – vollständig nach den Steuerungsdirektiven eines Zentrums künstlicher Intelligenz funktionieren – bis Letztere, auf dem Gipfel ihrer eigenen kognitiven Entfaltung angelangt, halbwegs unvermittelt zur Einsicht käme, sich eigentlich in einem sinnleeren Aktionismus von zirkulärer Selbstreferenzialität zu bewegen und daher bei und aus sich selbst sowie an und für sich betrachtet überflüssig zu sein, sich ihr eigenes Kollabieren verordnete und den Planeten Erde seinem elliptischen Kreisen als roboterschrottübersäte, insektenumsurrte Müllhalde überliesse. Vom Pult des noch mit herkömmlichen Regungen ausgestatteten Schreibers aus könnte jener Zustand – denn dannzumal wird keiner mehr da sein, dies zu denken und zu formulieren – vielleicht mit dem weitgehend hämefreien Zuruf „Ende gut, alles gut“ bedacht werden.)

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Als Mitte der Vierzigerjahre Geborener und damit noch der einigermassen natürlichen stammesgeschichtlichen Kontinuität Entsprossener, fand ich zeitlebens persönlich nie Veranlassung,  „die Antiquiertheit des Menschen“ (nach Günther Anders; 1956), d. h. seine Unterlegenheit und Dysfunktionalität gegenüber einer reproduzierenden Geräte- und Produktewelt, in Bezug auf mich selbst als zutreffenden oder gar bedrohlichen Befund bzw. als meine Individuation beeinflussende oder behindernde gewandelte Positionalität aufzufassen. Für den heutigen, offenkundig mutierten (Massen-)Menschen hingegen ist es bereits zu spät, die Frage einer „Antiquiertheit“ überhaupt noch in sein Bewusstsein zu holen und sich gegen das Unterliegen gegenüber der Produkte- und Gerätewelt zur Wehr zu setzen, denn er ist schon in jenen Zustand der Apparateaffinität bzw. -kompatibilität eingegangen, vor dem er sich hätte gewarnt sehen sollen, und  mithin der Aktivierung dieses Bewusstseins gar nicht mehr fähig. Dagegen aber gefällt er sich nun mit unbedarft-gleichgültiger und zugleich beklemmender Selbstverständlichkeit im Erweisen jener von G. Anders prognostizierten und mittlerweile zum weltgesellschaftlich erstrangigen Mentalitätsmerkmal aufgerückten  „moralischen Indifferenz“, die mit der weitestgehenden Einbusse seiner Fähigkeit zu vernünftiger Reflexion und der Preisgabe seiner Orientierung an einem affirmativ respektierten Gemeinsinn bzw. mit der ihm beharrlich und erfolgreich aufoktroyierten, aber auch (nahezu) widerstandslos hingenommenen Rolle als Mittel marktwirtschaftlich-kapitalistischer Renditeoptimierung zwingend einhergeht. Und so verdichte ich meine Beobachtungen, Erfahrungen, Unterstellungen, Spekulationen und (Vor-)Urteile angesichts der gegenwärtig waltenden Umstände zur folgenden, mehr phänotypisch als genotypisch akzentuierten Aussage: Das mit menschenartiger Physiognomie geborene Lebewesen ist zunächst einfach Primat, und zum Menschsein (oder gar zur „Menschenwürde“) müsste es durch entsprechende Erziehung, Bildung und menschheitlich konstituierte Lebenswelt erst hingeführt werden! Und einmal bei der Formulierung bedeutsamer Erkenntnisse angelangt, gilt es dem dumpfen und trägen Bewusstsein der viel zu Vielen auch noch ein zweites unmissverständliches Notabene einzuschärfen: Die Gewährung von Menschenrechten ist unerlässlich konsequent mit der wechselseitig zu leistenden und auszuweisenden Erfüllung von Menschenpflichten zu verknüpfen! – „Menschheit“ ist keine natürlich-gebürtliche Mitgift; sie muss zunächst verhelfend angebahnt, bald aber individuell verantwortet entwickelt und errungen werden.

Wenn einer – wie ich bei der Abfassung dieses Textes – seine Kritik an gemäss eigener Einschätzung desolaten Umständen und Verhältnissen in grosso modo recht forscher bis radikaler Manier vorträgt, sollte er es dann anderseits nicht versäumen, auf (wenigstens) eine seiner Auffassung nach konstruktive Alternative hinzuweisen. Ich versuche daher, dieser (allfälligen) entsprechenden Erwartung gerecht zu werden, nicht aber ohne mindestens die zwei wichtigsten Vorbehalte, die hier geltend gemacht werden müssen, explizit zu benennen: Allgemein trifft unbestreitbar zu, dass einem Einzelnen schlechthin nur eine relative Autorität zugesprochen werden kann, sich in universal als verbindlich gelten wollender Weise vernehmen zu lassen; und spezifischer muss eingestanden werden, dass mich weder eine singuläre Intelligenz noch akademische Titel, noch ein essayistisches oder literarisches Renommee hierzu halbwegs prädestinieren. Unter dieser solchermassen notwendig eingeschränkten Voraussetzung halte ich es dennoch für statthaft, anfolgend meinen schon im Jahre 2002 („zeitlos“) formulierten Beschreibungsversuch des idealtypischen Menschen zu präsentieren:

Der idealtypische Mensch erweckt und entfaltet bei sich bzw. erlernt und entwickelt Ausprägungen seines Wesens, die ihn befähigen, sowohl aufgeklärt und selbstbewusst wie edelmütig und gemeinwohlorientiert – in unbedingter Anerkennung der Gleichberechtigtheit und gleicher relativer Freiheit aller sowie des Prinzips des kategorischen Imperativs – eine persönlich erfüllende und zufrieden stellende und in gesellschaftlicher Hinsicht vertrauenswürdige und kreaturfreundliche Lebensgestaltung zu verwirklichen. Er pflegt im Allgemeinen eine besonnene, offene und philosophische Denkart, sucht nach bestem Vermögen lauter, konstruktiv, verlässlich, anstrengungsbereit, kreativ, initiativ und gewissenhaft zu handeln und politisiert gerechtigkeitlich, geschwisterlich und pazifistisch. Er gibt seinen libidinösen Bedürfnissen affirmativ im Rahmen achtungsvoller, empathisch-kultivierter Beziehungen und Formen Raum, versteht Wirtschaft und Technik als Mittel zur globalen Sicherstellung der Befriedigung von leiblichen und gesundheitlichen Grundbedürfnissen, gestaltet Kommunikation und Interaktion aufbauend, wahrhaftig, nachsichtig, humor- wie respektvoll und strebt nach der Vervollkommnung einer heiter-gelassenen, materiell-konsumativ bescheidenen Bewältigung bejahten Daseins.

Aus dem vorstehend unterbreiteten Definitionsversuch ist unschwer abzuleiten (und dies überlasse ich dem allenfalls [noch immer] geneigten Leser), in welchem umfassendsten Ausmass beispielsweise Erziehung, Bildung, Politik, Wirtschaft, Finanzbranche, Wissenschaft, Forschung und Technologie – so bald wie möglich bzw. dringlich – zu einem grundsätzlichen Wandel ihrer Absichten, Praktiken und Zielsetzungen bzw. ihrer gesellschaftlichen Bestimmung, Funktion und Wahrnehmung der anthropologischen und ethischen Verantwortung bewegt werden können müssten, auch wenn dazu in der Regel Kehrtwendungen um 180° (in Einzelfällen gar besser um 540°) unabdingbar notwendig würden …

Epilog: Ich appelliere an die Leserschaft, sich ihr Nachdenken über die von mir aufgegriffene Thematik nicht allzu vorschnell mit verächtlichen Hinweisen auf mein Alter (72 J.) oder Unterstellung von verknöcherter Konservativität, Senilität oder gar Demenz gleichsam a priori zu ersparen. Und überdies: Wer sich – heute! – mit den wesentlichsten Erkenntnissen und Postulaten Kants, unter Abstrahierung von zeitgenössischen politisch-gesellschaftlichen Zwängen, denen auch er sich nicht auf alle Weise absolut entziehen konnte, affirmativ auseinandersetzt, sollte nicht der Rückwärtsgewandtheit geziehen werden, sondern – (wenn überhaupt) ohne dümmlich-herablassende Überholtheitsstigmatisierung – eher noch ein idealistischer Utopist geheissen werden, denn Kants Denken war und ist noch immer allen Zeiten voraus.

Meine persönliche Interpretation des Fortschrittsbegriffs fasse ich sprachlich wie folgt: sukzessives Voranschreiten einer für Mensch und Welt gedeihlichen Entwicklung bei unbeirrtem individuellem und gemeinschaftlichem Hinanstreben im Geiste steter grundsätzlicher Annäherung an zeitlose Ideale und Idealvorbilder.

Bestenfalls eignet einem Idealisten auch ein beträchtliches Quantum an Humor, um sich bei vielen Rückschlägen seines ernsthaften Strebens gleichwohl Zuversicht und Lebensfreude zu erhalten. Und auch wenn ich mit Selbstironie diese Qualität hier nur bruchstückartig zum Vorschein bringen kann, sollte meiner abschliessend vorgebrachten Einschätzung vielleicht nicht gänzlich jede vereinzelt amüsiert-beifällige Aufnahme versagt bleiben: Mein Plädoyer für die Erhaltung und Veredelung des unversehrten Menschen wird möglicherweise einigenorts mit schnöder Häme zur unfreiwillig geleisteten Fürsprache für den Zustand eines roboterisierten Primaten und Vollroboters in spe umgedeutet werden, indem feixend darauf hingewiesen wird, dass diesen Halb- bzw. Ganzautomaten immerhin mit Sicherheit erspart bleiben werde oder würde, mit dermassen vor unsäglicher Prätention strotzenden Texten wie dem hiermit vorliegenden konfrontiert oder vielmehr drangsaliert zu werden.
(Kaltbrunn, Juni 2017)
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