Kriessern 1979: Lachschaden abgewendet?

Kriessern 1979: Lachschaden abgewendet?

Reminiszenz an

Zu Herbstbeginn des Jahres 1979 feierte Kriessern sein 750-jähriges Bestehen. Bernhard Benz, damals 34-jähriger Primarlehrer im Rheindorf (s. Anhang 1), erinnert an ein kurioses Intermezzo am Rande des Festes und klärt aus seiner Sicht über diese damals für das breite Volk mehr oder weniger vertuscht gebliebene Angelegenheit auf.

Begeht eine Kommune ein X-hundert-Jahr-Jubiläum, so gleichen sich landauf, landab die Einfälle und Vorkehrungen zur Gestaltung von Umzug, Festakt, Unterhaltung und Pressepräsentation wie schliesslich auch deren Realisierung in den verschiedenen Gemeinden: Altes Brauchtum wird kostümiert, vergangenes Handwerk wiederbelebt, der Lokalhistoriker kramt in den Annalen, als Festspiel geht mit ungelenkem Pathos ein in der Manier anekdotisierender Geschichtsklitterung kompilierter Bilderbogen über die Bühne und die „lebendigen“ Dorfvereine gestalten eine „Show“, in der sie mit den heute üblichen Mitteln und Formen den Stand ihres üblichen massentrendkonformen Heute repräsentieren usf. In Rheindörfern darf das Thema „Rheinnot“ ebenso wenig fehlen wie die romantisch verklärte Schmugglerei; den Kriessnern bieten sich neben speziellen Motiven wie Torfschollen und Maiskolben auch noch „Kriessner Gold“ (Messingblech [?]) und „Kriessner Hochzeitslied“ („Wie die Blümlein draussen zittern“) an …

Einige nach ihrer jeweils eigenen – wie u. U. auch nach allgemeiner – Auffassung ehrenwerte und verdienstvolle Männer, solche auch, die dorfpolitisch und -kulturell wichtige Chargen innehatten, konstituierten sich also damals als Organisationskomitee. Als öffentlichkeitsscheuer, wenig volksnaher oder jovialer Einzelgänger – und Altstätter! – gehörte ich dem Gremium selbstverständlich nicht an, hatte auch nicht mittelbaren Einblick in den Fortgang seiner Vorbereitungsarbeiten. (Nach und nach sickerten wohl einzelne Details durch, und zu einem gewissen Zeitpunkt wurde die Lehrerschaft mit den Erwartungen konfrontiert, die sich im Hinblick auf ein obligates Mitwirken der Schuljugend ergaben.) Jedenfalls waren auch für Nichteingeweihte planerische Konturen allmählich erahnbar, und es zeichnete sich ab, dass nach den zuständigen Köpfen das Fest im Grossen und Ganzen zu Formen gedeihen würde, wie ich sie oben als traditionelle Usanz und Wiederkehr des Gleichartigen grob skizziert habe. Dass also selbstgerechte Nabelschau, folkloristische Idyllisierungen, fromm-ernster Errungenschaftsstolz und geschäftstüchtige Leutseligkeit dem Jubiläum den Stempel aufdrücken würden. Und dass talauf, talab grosso modo die geläufigen Klischees von den Kriessnern – wie: etwas hinterwäldlerisch-eigenwillige Rustikalität, etwas quasinaiv-selbstbewusste Rheinholzer- und Torfstecherkultur, etwas kilbiselig-derbsinnliche Mentalität samt entsprechenden Erfüllungsbedürfnissen sowie in Ehren gehaltene Trinkfreude und -festigkeit u. Ä. – als bestätigt konstatiert und zementiert würden und im regionalen Umkreis einmal mehr das gewohnte mild-verständnisinnige und etwas herablassende Lächeln über das „spezielle Völkchen“ auslösen würden.

Nein – sagte ich mir –, die ausgetretenen Pfade, und etwa gar nur diese allein, sind nicht gut genug für eine regionsweite Selbstdarstellung Kriesserns! Etwas verblüffend Unerwartetes, Irritierendes, So-nicht-Dagewesenes sollte die Vorurteile verstören, in Nachbarschaft und Tal Erstaunen auslösen und im besten Fall heitere Anerkennung und einigen vergnügt gezollten Einmaligkeitsapplaus bewirken. Und ich verfasste die folgende fingierte „offizielle“ Presseverlautbarung und reichte sie u. a. den Redaktionen der beiden Lokalblätter des Rheintals ein (selbstverständlich unter Nennung von Name und Adresse des Absenders):

 

Sozusagen umgehend – und zwei Wochen vor dem Festtermin – veröffentlichte „Der Rheintaler“, Heerbrugg, meinen Text, wörtlich und fehlerfrei. Der aushilfsweise die dortige Redaktion betreuende Christoph Rohner, Sohn des ehemaligen freisinnigen Ständerats Willi Rohner von Altstätten, war von der satirischen Qualität meines Beitrags sehr angetan, zumal im zweiten Teil des Gedichts die Kriessern-Fokussiertheit der Aussage deutlich relativiert wurde und ich mir in der letzten Strophe gleichsam selbst ein ironisches Memento verpasst hatte. Der genannte Redaktionsverantwortliche war zudem um diplomatische Vermittlung bemüht und stellte der Publizierung des „Jubiläumsgedichtes“ einen eigenen Kommentar zur Seite, in welchem er an die mittelalterliche Rolle des Hofnarren und an dessen Recht erinnerte, „dem Fürsten und seinen Höflingen in witziger Form unangenehmes Wahres und gut Erfundenes zu sagen“. In der „Rheintalischen Volkszeitung“, Altstätten, damals noch von Eugen Rohner (CVP-Gewährsmann, nicht verwandt mit Chr. und W. Rohner) redaktionell allein betreut, erschien mein Text nicht! Auf meine telefonische Anfrage bei der Redaktion der „Volkszeitung“ hin, äusserte sich der Schriftleiter gewunden und gequält, dass evtl. zahlreiche Kriessner meinen Beitrag als Affront (miss)verstehen könnten. Vor allem aber könne er auch eine Veröffentlichung in Rücksicht auf die eigene Position nicht wagen, sitze doch der gewichtigste der Kriessner „Alten, Echten und Rechten“ (zuweilen „Zar von Kriessern“ genannt, Tiefbauunternehmer und graue bis raue Eminenz der Orts-CVP) im Verwaltungsrat des Druckereiunternehmens, sei daneben möglicherweise auch bedeutender Aktionär …

Das Heerbrugger Blatt war – seinerzeit vielleicht noch ausgeprägter als heute – v. a. das Leibblatt der Unterrheintaler, im Oberrheintal eher spärlich verbreitet und hatte in Kriessern geschätzte null bis fünf Abonnenten. Ob also überhaupt und wie mein Text im Unterrheintal und bei den wenigen Oberrheintaler Lesern des „Rheintalers“ rezipiert wurde, entzog sich meiner Kenntnis. Dass aber durch die mut- und humorlose Haltung des Altstätter Blattes – des traditionellen Leibblattes der Kriessner sowie der Grosszahl der Zeitungsleser des Kriessern umgebenden Oberrheintals – der hoch überwiegenden Mehrheit der damaligen oberrheintalischen Bevölkerung mein kritisch-humorvoll gedachter und der Kriessner Fähigkeit zu Selbstironie signalisieren sollender Beitrag vorenthalten wurde, enttäuschte und ärgerte mich recht sehr. Und gleichzeitig schwante mir schon dunkel, dass eine allfällige Diffamierung des Gedichtverfassers als Nestbeschmutzer bei der uninformierten Bevölkerung Kriesserns und seiner Nachbarschaft leicht zu bewerkstelligen sein würde …

Ein Mitglied des Kriessner Festkomitees – damals in Heerbrugg wohnhaft und Kantonsrat – jedenfalls registrierte meinen Zeitungsartikel, trommelte bei nächster Gelegenheit aufgebracht sein Komiteekollegium zusammen, dem Vernehmen nach noch verstärkt durch den damals omnipräsenten Balgacher CVP-Gewaltigen Edgar Oe., und berief eilig eine Pressekonferenz ein. Die Redaktion des „Rheintalers“ musste Schmähungen und Drohungen einstecken und liess etwa eine Woche später „zerknirscht“ (?) eine beim Schneiderphilosophen und -poeten „Wab“ bestellte Huldigungshymne ans schöne, stolze Rheindorf einrücken. Im Übrigen soll im machtpolitisch sekundierten Kriessner Komitee beschlossen worden sein, von der Sache nichts verlauten zu lassen, da ja – wie schon gesagt – die Kriessner und mit ihnen fast geschlossen das ganze Oberrheintal so gut wie nichts mitbekommen hatten und durch das offizielle Beschweigen daran am wenigsten etwas geändert würde.

Meine übermütig-unkonventionelle Aktion war also im angezielten oberrheintalischen Wirkungsbereich in Bezug auf eine Wahrnehmung bei der breiten Bevölkerung fehlgeschlagen. Ein senkrecht-männlichkeitlicher Bund von Machtpolitikern, Selbstgerechten und Humorlosen hatte an mir (wirtschaftlich) Kleinem exemplarisch statuiert, dass eine praktische Ausübung des Rechts auf Meinungsäusserungsfreiheit im einzigen öffentlichen Publikationsorgan des Bezirks vom nach eigenem Gutdünken nach oben oder nach unten weisenden Daumen der Eignerschaft des Kommunikationskanals und dem Beifall bzw. der Häme ihres den identischen Interessen angelobten Günstlingskreises abhängig war. Satire schreibt man zwar für ein potentielles Publikum und möchte sie von diesem auch gelesen und beurteilt wissen, doch mein persönlicher Geltungsdrang war dann doch nicht leidenschaftlich (oder pathologisch) genug, um finanzielle Mittel aufzuwerfen, die ich gar nicht besass, um für einen Privatdruck und seine regionsweite Streuung aufzukommen.

In der beklemmenden Lage, keine Ahnung davon zu haben, ob wenigstens in Kriessern doch eine Handvoll von Einwohnern möglicherweise auf Umwegen meinen Jubiläumsbeitrag zu Gesicht bekommen hatten, und mehr noch, wie viel Sachgerechtes bzw. Sachentstellendes und lediglich abfällig Kolportiertes darüber sich bei der einheimischen Bevölkerung u. U. gerüchteweise verbreitet hatte, beschloss ich, eine vorgeblich selbstbezichtigende, ironisch gedachte „Strafarbeit“ zu verfassen (s. Anhang 2) und damit meinerseits einen halbwegs witzigen Schlusspunkt hinter die von mir selbst angezettelte, aber statt in allgemeinem homerischem Gelächter in einer bei mir sich niederschlagenden melancholischen Gemütsverfassung endende Affäre zu setzen. Auf A4-formatigem Blatt waren die (angeblich) 86. bis 100. Wiederholung eines handschriftlich ausgefertigten fiktiven Auftrags: Schreibe hundertmal „Ich bin selbst der grösste Spiesser von Kriessern und habe auch keinen Humor“ und meine Unterschrift zu lesen. Einige Dutzend von mir selbst auf dem anspruchsvoll zu handhabenden schuleigenen (!) englischen Vervielfältigungsapparat produzierte Kopien landeten schliesslich in ebenso vielen Kriessner Briefkästen. Reaktionen erfolgten weder an mich persönlich, noch wurden mir solche indirekt hinterbracht.
Das war’s dann. War’s das?
Nein. Vom Schulrat wurde mir ein strenger Verweis für die ganze offenbar hinsichtlich der rechtschaffenen und doch so unbestreitbar verdienten Festfreude als böswilliger Sabotierungsversuch taxierte Jubiläumsgedicht-Angelegenheit erteilt, unter Androhung von scharfen Sanktionen für den Fall eines weiteren, ähnlich gravierenden Verschuldens.

In den restlichen vier Jahren meines Aufenthaltes in Kriessern liess mich der Eindruck nicht mehr los, von einem unbestimmten Teil der Kriessner Einwohnerschaft in unbestimmtem Grade geächtet zu sein; vielleicht war’s in unbestimmter Weise auch mehr nur Einbildung, latent diffuses Umtreiben in einer in unbestimmtem Grade bedrängten Seele …

Mit einem seither allfälligen (seltenen) Erinnerungshinblick auf meinen damaligen Humorsprengstoffattentatsversuch verbindet sich zuverlässig und insistent, aber unbeantwortbar jeweils die Rätselfrage:
In welchem Mass und für wen wurde im Jahre 1979 in Kriessern weitsichtig Lachschaden abgewendet – in welchem Mass und für wen wurde engstirnig Lachgewinn verhindert?

Ich glaube, es mir selbst schuldig zu sein, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass in meinem Wesen (damals schon wie heute noch) u. a. zwei zuweilen sich zueinander oppositionell manifestierende Antriebe sozialen Interagierens angelegt waren bzw. sind: ein kritisch-wehrhafter Geist, der zu schonungslosem, oft satirisch gefärbtem Ausdruck drängt(e), und anderseits eine hohe Gewissenhaftigkeit, mir beruflich oder privat anvertraute Pflichten mit einem mir innewohnenden und ethisch gestützten Hang zu akribischer Gründlichkeit und erwartungsgerechter Verlässlichkeit zu erfüllen. Aus diesem Grund darf zum Schluss nicht unerwähnt bleiben, dass ich – jenseits der satirischen Kaprice – auch jene Aufgaben selbstverständlich mit tadellosem Engagement erledigte, die sich im Rahmen des offiziellen und mit dem Festkomitee abgestimmten Beitrags der Schule stellten. Mit der Klasse wurden die Liedstimmen eingeübt, die einem Kollegen die Bühnenpräsentation eines Gesamtchors gelingen halfen; für den kabarettistischen Sketch eines andern Kollegen suchte ich in meiner umfangreichen Tonträgersammlung ein geeignetes, überzeugendes musikalisches Signet, erstellte die erforderliche Tonspur und fungierte während der Aufführung (unsichtbar) als Tonmeister; und – am anspruchvollsten und zeitraubendsten – mit zwei Kolleginnen und einem Kollegen zusammen entstand unter meiner Federführung ein Begleitbüchlein zum Festumzugssujet „Schule morgen“, zu dem ich auch eine Titelblattgrafik schuf (s. Anhang 3), sodann mit dem (Oberrieter) Druckunternehmen die grafische Umsetzung, das Format und die Druckfarbe besprach und die Kosten aushandelte.

Ist es aber nicht doch irgendwie bezeichnend, wenn ich die (zu) wortreiche Unterbreitung einer Reminiszenz an „750 Jahre Reichshof Kriessern“ mit einem Hinweis auf das nicht realisierte schalkhafte Vorhaben „O Kriessern, du“-Verse (s. Anhang 4) abschliesse?

 

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Epilog:
Wenn Menschen ihre schicksalsverfügte Herkunft zum Anlass nehmen, darauf einen lächerlichen Stolz zu gründen, und ihre durchschnittlich und in der Regel vorwiegend dem eigenen Interesse verpflichtet absolvierte bisherige Existenzbewältigung mit hohlem Pathos glorifizieren und von andern als Achtung gebietendes Verdienst gewürdigt zu wissen verlangen – so entspricht dies ebenso sehr einem zwar weitverbreitet eingewurzelten, aber unreflektiert allzumenschlichen Selbsterhöhungsgebaren, wie dieses andererseits im Grunde genommen eigensüchtig, provozierend und ärgerlich ist.
Wenn ein Einzelner diesen Menschen die Fähigkeit zu „Selbstironie“, die sie gar nicht besitzen, unter Formen von Äusserungsweisen zuzumuten trachtet, zu denen die Betroffenen niemals selbst gefunden hätten – so ist dies ein ebenso, gelinde gesagt, eigenwilliges wie gleichzeitig illusorisches Unterfangen.
Wenn dieser Einzelne sein problematisches Vorhaben dennoch unbeirrt ins Werk setzt und sich zudem des Selbstgefährdungscharakters seines Tuns bewusst ist – so bringt er solchermassen Gründe bzw. Motive oder Neigungen ins Spiel, die zwar weder feixende Anerkennung noch nächstbeste Bezichtigung rechtfertigen, über deren Beschaffenheit und (psychischen) Ursprung aber behutsam zu spekulieren erlaubt bleiben muss.

 

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Fussnoten zu intentionalen Aspekten

1) Das ganze vorstehende rapportierende, dokumentierende und kommentierende Erinnerungsstück ist nicht in einem leutselig anbiedernden Volkston gehalten. Im Gegenteil: Aus ihm schlägt uns mancherorts ein skeptischer und volkskritischer Geist entgegen. Der Verfasser – selbst dem Proletariat entstammend – konnte und wollte gewisse Ressentiments nicht verleugnen und entzog sich damit der Versuchung, aus der Perspektive einer hochmütig und künstlich eingenommenen Warte nobel-herablassender Distanz im Stile des wohlwollenden Menschenfreunds und unter Aufbietung sprachgeformter (scheinbarer) Erweise unversieglicher Einfühlsamkeit und überströmender Verständnisinnigkeit Volk, Volksgeist und Volkstümlichkeit zum verniedlichten Gegenstand „liebevoller“ Idyllisierung und verklärter Naturunschuld zu machen.

2) „Und wenn sie sagen: ‘Ich bin gerecht’, so klingt es immer gleich wie: ‘Ich bin gerächt!’“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 2. Teil, Von den Tugendhaften)

3) „Wie kann ich jedem das Seine geben! Dies sei mir genug: Ich gebe jedem das Meine.“    (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1. Teil, Vom Biss der Natter)

(Kaltbrunn, April/Mai 2010)                                                                        Bernhard Benz             

 

Anhang 1


Bernhard Benz, 1975 als dreissigjähriger Dorfschullehrer in Kriessern SG

(Die photographisch festgehaltene Physiognomie kann zu realitätswidrigen Assoziationen verleiten! Lange Haare waren und sind für mich ein ästhetisches Erfordernis [und wenn sie auch heute schmerzlich gelichtet sind, trage ich sie noch immer lang]. Als vehementer Anti-Idolist hatte ich seinerzeit wenig übrig für Beat- und Popmusik und ihre Protagonisten, und mit der Hippiekultur teilte ich nur den [meinerseits vernunftbegründeten] Pazifismus. Von den Massenmedien forcierten Trends und konsumorientiertem Zeitgeist stand ich, stehe ich noch heute mit – da und dort wohl dünkelhaft anmutender – Ablehnung und bisweilen ätzender Kritik gegenüber. Meine musikalischen Präferenzen galten dem Jazz, der Klassik, dem Volksliedgut und skurrilen Kuriositäten; literarisch neigte ich als Jugendlicher zur Lektüre barocker Romane und romantischer Erzählungen, später begleiteten mich Marcel Proust und vor allen anderen Robert Walser, und immer auch amüsierten mich dadaistische und absurde Texte sowie die Stücke Karl Valentins. (Heute lese ich fast ausschliesslich in philosophischen Schriften.) Als Lehrer war ich von einem hohen geisteskulturell und sozialethisch geleiteten Bildungsideal beseelt, agierte autoritär, Faulheit, Betrug und mangelnde Disziplin brachten mich in Rage, und allzu ausgeprägter Begriffsstutzigkeit gegenüber konnte ich mich vielleicht nicht ausreichend angemessen einfühlen. Trotz meiner Orientierung an Intellekt, Literatur, Grammatik, Logik, Struktureinsicht, Pflichtethos, Sorgfalt, Schrifteleganz u. Ä. – als befriedigend, erfüllend (kurz: schön) glaube ich in Bezug auf meine Lehrtätigkeit am ehesten Begebenheiten oder Augenblicke wie die folgenden nach Massgabe meines eigenen Empfindens anführen zu dürfen: wenn ich ein grossartiges, komisches oder kurioses Gedicht mit Enthusiasmus präsentierte, der Funke der Begeisterung auf die Kinder überzuspringen schien und sie meine Darbietung mit gebannter Aufmerksamkeit entgalten; wenn nach zahlreichen motivierenden und kreativen Impulsen und technischen und kompositorischen Unterstützungen und Vorschlägen eine Reihe von faszinierenden kindlichen Bilderzeugnissen vorlag; wenn nach engagiertem Einüben und konzentriertem Proben der Gesamtvortrag eines mehrstimmigen Liedes in ansprechender Qualität glückte …)

Anhang 2


Fingierte „Strafarbeit“ als ironisierter Akt angeblicher Sühneleistung: 100-mal „Ich bin selbst der grösste Spiesser von Kriessern und habe auch keinen Humor“. (1979, im Zusammenhang mit der „Jubiläumsgedicht“-Affäre)

Anhang 3


Titelblattgrafik der von der Kriessner Lehrerschaft im Jahr 1979 verfassten konsumgesellschafts- und technologiekritischen Begleitschrift zum Sujet „Schule morgen“ am Festumzug „750 Jahre Reichshof Kriessern“. Einige hundert Exemplare des Büchleins wurden an die Umzugszuschauer verteilt.

 

(Das Begleitschriftbüchlein – Format A7, zweimal geheftet, starkes weisses, satiniertes Papier, Druckfarbe Blau, 28 Textseiten – enthielt u. a. Aussagen, die noch heute [oder heute erst recht] Aktualität besitzen, und [utopistische] Postulate, die noch immer der Einlösung harren.
Ich zitiere auszugsweise:

[S. 7] „Die Schule von heute passt sich der Konsum- und Leistungsgesellschaft an. Sie unterzieht sich den Erfordernissen der Wirtschaft. Sie re-agiert. Sie agiert (handelt) nicht.“

[S. 8] „Die Schule von morgen muss selbst handeln! Sie muss ihrem Auftrag ein neues Bewusstsein zugrunde legen und damit die Gesellschaft formen.“

[S. 18] „Die menschliche Gesellschaft von morgen gehorcht nicht politischer, wirtschaftlicher oder technologischer Autorität, sondern orientiert sich am Prinzip harmonischen Menschseins (…).“

[S. 25] „Die Aus- und Weiterbildung des Lehrers/Erziehers ist qualitativ und quantitativ auszubauen. Schwerpunkte müssen eine philanthropisch-philosophische Bildung, psychologische und sozialpädagogische Ausbildung und Kommunikationsschulung sein.“

[S. 26] „Der Beruf des Lehrers/Erziehers wird somit von innen und soll auch von aussen zum verantwortungsvollsten und anforderungsreichsten aller Berufe aufgewertet werden – weil seiner Funktion für die bessere Gesellschaft von morgen eine Schlüsselrolle zukommt.“)

 

Anhang 4

„O Kriessern, du“-Verse

Hätte sich im zeitlichen Umfeld des Jubiläumsfestes auch z. B. ein Vers-Wettbewerb lancieren lassen, um u. a. Witz und Selbstironie der Kriessner, aber auch die freundnachbarschaftliche Sichtweise von Nichtkriessnern sich manifestieren zu lassen?
Aber wie organisieren, wie und wo ausschreiben … ?
Der Einfall 
blieb unrealisiert
; einige Vers-Exempel, welche die Vorstellungen des Wettbewerbsinitianten illustrieren und das Mittun anregen sollten, aber waren schon gedrechselt und werden nachfolgend (verschämt) unterbreitet:

1. O Kriessern, du, so lang, so breit!
Hast alles, was den Kriessner freut!

2. O Kriessern, du, wo Rhein, wo Riet!
Wo kleckernd Vieh des Weges zieht.

3. O Kriessern, du, zeigst dich gar hold
mit Schollen, Ribel, Kriessner Gold!

4. O Kriessern, du, die CVP
sagt selbstlos dir, wer steh’, wer geh’!

5. O Kriessern, du, o Festspiel dein!
O könnt’s heut’ Mittelalter sein!

6. O Kriessern, du, will gerne hoffen,
dass Hosen zu und Wirtshaus offen!

7. O Kriessner, du, Föhn und Most sind
hauptsächlich schuld an deinem „Grind“.

8. O Kriessern, du, gegrüsst von weit’!
Du Karies am Zahn der Zeit!

9. O Kriessern, du, dein Tuch gehisst:
auf schwarzem Grund viel golden Mist!

10. O Kriessern, du, am jungen Rhein!
Ich nenn’ dich stolz und innig mein.                                                                                   (Variante: Ich nenn’ dich stolz und innig …, nein!)

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