Schimäre Charisma

Schimäre Charisma (Trugbild „Gnadengabe“)

(Ursprüngliche Fassung)

Von Bernhard Benz

Gewiss spielen immer auch persönliche Inblicknahme-Vorlieben herein, dem Verfasser jedenfalls will scheinen, die journalistische, mediale Verwendung bzw. Platzierung der Begriffe „Charisma“ und „charismatisch“ greife auffällig um sich. Dazu wird weiter unten einiges Pointiertere anzumerken sein.

Begriffsgeschichtlich wollen wir nur das Allerunerlässlichste äusserst bündig ansprechen. Zunächst seien die frühchristlichen Charismatiker erwähnt, Personen mit oder ohne kirchliches Amt, die als „mit göttlicher Gnadengabe“ Gesegnete aufgefasst wurden und deren vorsehungsbestimmte Begabung in heilsdienlichen Sparten wie Weisheit, Erkenntnis, Glaube, Heil- und Wunderkraft, Prophetie u. Ä. in den Urchristengemeinden Anerkennung fand. Einen aufgeklärten Heutigen muten diese religiös motivierten Zuschreibungen und Überhebungen höchst zweifelhaft an, aber im Rahmen einer (kurzen) Glosse können wir uns nicht angemessen auf eine Erörterung grundlegender weltanschaulicher Fragen einlassen, also wollen wir die prototypischen Charismatiker nicht mit verfehltem oder verfänglichem Eifer aus dem historischen Dämmer herauszerren.

In der Neuzeit war es der Soziologe Max Weber (1864 bis 1920), der zur modernen, säkularisierten Verwendung des Begriffs Charisma überleitete. Er beschrieb damit die Begnadung bestimmter Persönlichkeiten mit besonderen, ausseralltäglichen Fähigkeiten (in den Augen einer verehrenden Gemeinschaft oder Anhängerschaft), und zwar in ihrer Funktion als innerlich überzeugte Akteure im Bereich politischen Wirkens.

Heute versteht man unter Charisma  ohne noch bestimmte Voraussetzungskriterien zu denotieren  die besondere Ausstrahlungskraft eines Menschen. Aber, so die Meinung des Verfassers, und wohl nicht nur die seinige, so skeptisch man die seinerzeitige religiöse Charismazuschreibung einschätzen mag oder muss, so zwiespältig-uneindeutig und diskutabel zeigt sich die zeitgenössische. Erstens, wo und weil sie beliebig, diffus-undefiniert, persönlich-geschmäcklerisch, modisch oder populistisch gehandhabt, und zweitens, gerade weil sie trotzdem häufig massenmedial kolportierend, boulevardesk idolisierend, gar kommerziell oder politisch absichts- und interessegeleitet verbreitet wird.

Befragt man heute Individuen (wie viel Individualität dem Einzelnen auch immer eignen mag), was nach ihrer Auffassung einen Menschen charismatisch mache, sieht man sich je nach Menge und persönlichkeitlicher Heterogenität der Befragten u. U. einem beträchtlichen Spektrum verschieden charakterisierender Antworten gegenüber (etwa dass jemand Gelassenheit ausstrahlen oder dass jemand Humor haben müsse, dass jemand geschmackssicher, gebildet und kultiviert wirken oder dass jemand Charme und Optimismus verbreiten müsse u. v. a. m.). Also allgemein betrachtet und nicht an einer bestimmten Person als eignend oder nicht eignend beurteilt, ist „Charisma“ weder gestaltmässig noch nach Intensitäts- oder Einwirkungsbedingungen konsensuell zu fassen noch greifen erhebliche Strittigkeitsmomente. Die individuellen Antworten sind aber immerhin hypothetisch noch nach mindestens zwei Grundtypen von Befragten psychologisch grob unterschiedlich zu qualifizieren: Wenig Bescheidene oder gar Arrogante und Selbstverliebte nennen Charisma-Eigenschaften, von denen sie glauben oder wähnen, selbst mit ihnen ausgezeichnet zu sein. Hierüber wollen wir schweigen. Eine stattliche Mehrheit, schätze ich, gibt hingegen Qualitäten an, die man im weitesten Sinne und nach sehr subjektiven Kriterien gewertet als die charismatisierte Person zierende Tugenden, tugendartige, anziehende, Bewunderung erweckende Begabungen und Vorzüge umschreiben könnte.

Dies weist uns auf den vielleicht entscheidenden, allgemein eher vernachlässigten Aspekt der Charismazuschreibung hin: Im Grunde genommen ist wenig Gesichertes über die effektive Auszeichnung und das Begabungspotential einer als charismatisch indizierten Person gewissheitlich ausgesagt – auch Anzeichen oder Anschein mögen oft hinreichen , sehr viel hingegen verrät der/die Zuschreibende über seine/ihre Wünsche, Sehnsüchte, eigenen Unzulänglichkeiten, wenn nicht gar Defizite, die sich gleichsam eine positive Projektionsfigur kreieren bzw. erküren.
So gesehen, bekommen sattsam gepflogene, unreflektierte Charismazuschreibungsübernahmen, privates, öffentliches oder massenmedial habitualisiertes, oft aber auch wenig transparent interessenintendiertes Weiterraunen, -sagen, -tragen, -posaunen oder -plakatieren eines (angeblichen) charismatischen Renommees von sogenannten Publikumsfavoriten und u. U. willkürlich erschriebenen Leitfiguren oft eine groteske, tragikomische, ärgerliche, irreleitende, übervorteilende oder gar verdummende Dimension.

Eine letzte Nuancierungsvariante der schillernden Schimäre Charisma wird hier offeriert, wenn wir abschliessend auf ein konkretes, schweizweit geläufiges Exempel zu sprechen kommen. Nicht selten liest man in Artikeln und Kommentaren, selbst solchen von reputierten Chefredaktoren, vom Charisma Christoph Blochers. (Zwischenbemerkt muss hier dringlich werden, dass der Verfasser aus Gründen der thematischen Konzentration und wegen mangelnder fundierterer Kenntnisse sich Wertung, Würdigung oder Kritik sowohl des allfällig Verdienstlichen wie möglicherweise Problematischen von Chr. Blochers politischem Engagement und Wirken strikte versagt.) Also: Charisma und Christoph Blocher. Verfolgt der Schreibende beispielsweise am Fernsehbildschirm eine Interview- oder Redesequenz mit Herrn Blocher oder holt er sich entsprechende Bilder und Töne aus dem Gedächtnis herauf, so ruft dies eigentümlich verlässlich die immer gleichartige Assoziation hervor: Durch sein solcherart stimuliertes Bewusstsein irrlichtert eine geradezu archetypische Formulierung aus einem Gedicht Hans Morgenthalers (1890 bis 1928): Welch „plumper, schwerer Schweizer Keib“! Und zuweilen ruft dieses Bild weitere, blumigere Empfindungen, pittoresk gesteigerte Ein- und Ausdrücke herbei, wie etwa: Welch brienzerisch geschnitzelte Verkörperung des urbildlichen Echtschweizer-Stereotyps! Welch vaterlandszelotische, kehlkrachige wie gepresstvokalige, sonntagshosige Holperredefrönerei, trutzig-stolze, wehrhafte, winkelriedische Hochdeutschbefehdung! Welch krempelärmelige, heimatgewisse, entrüstungsträchtige Alles-was-recht-ist-Rhetorik! Welch eidgenössisch erschworene währschafte Behäbigkeit und rechtschaffen-feste Säckeltreue! Welch redlich-ungelenke Dorfschwankmotorik mit brusttoninnigem Alpsegenpathos …, u. Ä.! Zum Steinerweichen und Gotterbarmen  falls hieraus etwa erlittene Not und schwerlastende Fügung für rührende, tapferkeitlich-unbändige Selbstbehauptungsversuche zeugen …

Doch halt: Sollte nun aber die weiter oben erwähnte Aus- oder Kennzeichnung Chr. Blochers als charismatische Figur landauf, landab etwa erhebliche Zustimmung finden, scheinen für den Verfasser medial suggerierte Massennachahmung und individuelle Projektionsvorlieben als Erklärungsgründe nicht hinzureichen. Nein, da ist zumindest noch ein wuchtiges Drittes, das wir uns „die kollektive volkstümliche Charismazuschreibungsmotivation“ zu nennen gestatten, nämlich: Dankbarkeit und Sympathie aus frohgemutem Erleichtertsein darüber, dass da einer selbstbewusst das verschämt verheimlichte vermeintlich Minderwertige, das schnabelwüchsig an- und eingeboren inbegrifflich Schweizerische, das kulturgestisch erzwängt Überspielte, das naturtrübe Meines-, Deinesgleichen bzw. Unserartige, kurz das offiziell Nichtige aufs selbstverständlichste als das offiziell Geltende vorlebt und es im Öffentlichen und Demokratiepolitischen sozusagen gleichzeitig domestiziert und zelebriert  und aus der in jedermann neu-handfest genährten Hoffnung, trotzdem oder gerade deshalb auch einmal sehr reich zu werden.

(Kaltbrunn, Juli 2007)
(Dieser glossierende Quasiessay entstand im Juli 2007 – auch mit teilweisem Hinblick auf die Nationalratswahlen vom selben Herbst. Chr. Blocher amtierte damals als Bundesrat und war [schon seit langem] sozusagen permanent in den Medien präsent.
„Schimäre Charisma“ wurde den Redaktionen einiger lokaler, regionaler und auch zweier nationaler Presseorgane – der „Weltwoche“[!] und der „WOZ“ – im Sinne eines Artikels eines gleichsam freien Mitarbeiters zugestellt; veröffentlicht hat den Text aber keines der damit bedienten Printmedien.
Um die Chance zu erhöhen, vor allem den lustvoll karikierenden hinteren Teil meines Aufsatzes doch noch einer wenn auch evtl. zahlenmässig eingeschränkteren Leserschaft unterbreiten zu können, überarbeitete ich den vorderen Teil und schickte diese verkürzte Version als Leserbrief mit dem Titel „Mangel lehrt idolisieren“ [siehe „Anhang I“!] wiederum an einige Blätter. Immerhin eine Redaktion, jene des ländlichen Gratisanzeigers „Toggenburger Zeitung“, publizierte diesen Text als Lesermeinung am 30. August 2007. [Der damals gerade neu angestellten Redaktorin des Gratisanzeigers aus dem Toni-Brunner-Stammland muss nachher der Kopf aufs gründlichste gewaschen worden sein; von mir wurde jedenfalls seither dort keine Lesermeinung mehr abgedruckt, wie lang oder kurz auch immer sie abgefasst war.]
Da im Falle meiner Zusendungen für die Rubrik „Leserforum“ in der Regel an erster Stelle ihr zu üppiger Umfang moniert wird, ich aber anderseits jeweils unbedingt auf einer vollständigen, typoskriptgetreuen Wiedergabe bestehe, verschlankte ich in einem letzten Versuch den vorderen Teil meiner ersten Leserbriefversion nochmals erheblich und adressierte diese 2., endgültig kurzgestutzte Leserzuschriftfassung unter der Überschrift „Diesseits und jenseits des scheinbar Charismatischen“ [siehe „Anhang II“!] nur noch an drei, vier regionale bzw. lokale Zeitungen. Erfolg: zwei Veröffentlichungen: a) eine Woche vor den Wahlen vom 21. Oktober 2007 in der „Rheintalischen Volkszeitung“ [meinem Heimatblatt], b) redaktionsseitig erst „post festum“ – am 26. Okt. 2007 – „riskiert“, in der Linthgebiets-Regionalausgabe der „Südostschweiz“.)

Anhang I. (Verkürzende Bearbeitung von „Schimäre Charisma“; 1. Leserbriefversion)

Mangel lehrt idolisieren

Von Bernhard Benz

Es ist in der Welt der Publizistik beileibe kein rares Phänomen, dass einzelne Wörter, Bezeichnungen, Wendungen – keinesfalls immer Neuschöpfungen – in eine (willkürliche) Vorzugsstellung gespielt und über nachahmerisches Aufgreifen durch zahlenmässig ansehnliche journalistische Kollegenschaftskreise sowie den eifrigen Sukkurs durch Heerscharen geltungsbedacht-kultfrommer Adabeis ins zweifelhafte Ansehen eines modischen Trendbegriffs oder eines (anscheinend) zeitgeisttypischen Prädikats gehievt werden. In solcher Weise steht mir der Begriff „Charisma“ bzw. „charismatisch“ im Blick, mit dem man nach heutigem Bedeutungsgehalt auf die „besondere Ausstrahlungskraft eines Menschen“ hinweisen will.

Liebe Leserin, lieber Leser, besitzen Sie Charisma? – Nein, nicht? – Ich auch nicht. – Wer sich selbst herausragende Eigenschaften, beeindruckende und in Bann ziehende Begabungen und Vorzüge bescheinigt, gilt zu Recht eher als anmassend und an Selbstüberschätzung leidend denn als charismatisch. Das Wesen einer allfälligen besonderen Ausstrahlungskraft eines Menschen wurzelt denn auch überwiegend in der Fremdzuschreibung, will heissen, das durch eine ausserordentliche Beeindruckung angemutete (oder heimgesuchte?) Objekt attestiert der Person, die es für das Subjekt dieser Wirkung hält, Charisma. Nüchterner noch – um nicht zu sagen aufklärungsverpflichtet – formuliert: Im Grunde genommen ist wenig Gesichertes über die effektive Auszeichnung und das Begabungspotential einer als charismatisch bezeichneten Person gewissheitlich ausgesagt – auch Anzeichen oder Anschein mögen oft hinreichen –, sehr viel hingegen verrät der/die Zuschreibende über seine/ihre Wünsche, Sehnsüchte, eigenen Unzulänglichkeiten, wenn nicht gar Mängel, die sich gleichsam eine positive Projektionsfigur kreieren bzw. erküren!

Mögen infolge solcher wunsch-, mangel-, not- oder suchtgeborener Tugend- und Fähigkeitsübertragung über kurz oder lang private Irrtümer und Fehlveranschlagungen auch mildere bis bitterere Enttäuschungen verschulden und bescheren, dies lässt sich je nach Individuum und beim gutteils schicksalsgeprägten Gang der beziehungs- und
erfahrungsmässigen Dinge persönlich zuweilen nicht leicht vermeiden. Hingegen an nötiger Behutsamkeit und verpflichtendem Verantwortungsbewusstsein fehlt es, leider ohne erhebliche Skrupel weithin etabliert, dort, wo – auf die Macht der medialen Präsenz und eine Vielzahl „selbstverschuldet unmündiger“ Rezipienten spekulierend – über die diversen Kommunikationskanäle öffentlich, aktiv und oft auch wenig durchschaubar interessengeleitet die Verbreitung unreflektierter Übernahme von Charismazuschreibung begünstigt oder gar beabsichtigt wird. Das journalistisch angestossene und leserseits übernommene Weiterraunen, -sagen, -tragen, -posaunen oder -plakatieren eines (angeblich) charismatischen Renommees von sogenannten Publikumsfavoriten und u. U. willkürlich erschriebenen Leitfiguren kann dann Auffassungs- und (Vor-)Urteilsgleichschaltungen bewirken, deren Trugcharakter je nach Fall in eine groteske, tragikomische, ärgerliche, irreführende, übervorteilende oder gar verdummende Dimension hineinreicht.

An einem schweizweit geläufigen Exempel will ich zeigen, dass ein skeptischerer Zeitgenosse (wie der Schreibende) durchaus auch vorwiegend amüsiert auf die allerdings zweifelsfrei konstatierte Kluft zwischen publizistisch verbreiteter Charismazuschreibung und der eigenen (selektiven) Wahrnehmung in Bezug auf ein und dieselbe Person reagieren kann. Auf Christoph Blocher, der selbst in Leitartikeln von reputierten Chefredaktoren verschiedenster Couleur regelmässig als charismatisch apostrophiert wird, komme ich zu sprechen – nicht ohne ausdrücklich anzumerken, dass explizite Aussagen oder Urteile über Gegenstände und Inhalte seines politischen Wirkens im Rahmen dieser Glosse nicht thematisiert sind. Wie wirkt seine „besondere Ausstrahlungskraft“ auf mich?

Verfolge ich beispielsweise am Fernsehbildschirm einen Rede- oder Interviewausschnitt mit Herrn Blocher oder hole ich mir die entsprechenden Bilder und Töne aus dem Gedächtnis herauf, ruft dies mit hoher Zuverlässigkeit die immer gleichartige Assoziation hervor: Durch mein solcherart stimuliertes Bewusstsein irrlichtert eine geradezu archetypische Formulierung aus einem Gedicht Hans Morgenthalers (1890 bis 1928): Welch „plumper, schwerer Schweizer Keib“! Und zuweilen regt dieses Bild weitere, blumigere Empfindungen, pittoresk gesteigerte Ein- und Ausdrücke an, wie etwa: Welch brienzerisch geschnitzelte Verkörperung des urbildlichen Echtschweizer-Stereotyps! Welch vaterlandszelotische, kehlkrachige wie gepresstvokalige, sonntagshosige Holperredefrönerei, trutzig-stolze, wehrhafte, winkelriedische Hochdeutschbefehdung! Welch krempelärmelige, heimatgewisse, entrüstungsträchtige Alles-was-recht-ist-Rhetorik! Welch eidgenössisch erschworene währschafte Behäbigkeit und rechtschaffen-feste Säckeltreue! Welch redlich-ungelenke Dorfschwankmotorik mit brusttoninnigem Alpsegenpathos …, u. Ä.! Zum Steinerweichen und Gotterbarmen – falls hieraus etwa erlittene Not und schwerlastende Fügung für rührende, tapferkeitlich-unbändige Selbstbehauptungsversuche zeugen …

Doch halt: Sollte nun aber die weiter oben erwähnte Aus- oder Kennzeichnung Chr. Blochers als charismatische Figur landauf, landab etwa erhebliche Zustimmung finden, scheinen mir medial manipulierte Massennachahmung und individuelle Projektionsvorlieben als Erklärungsgründe nicht hinzureichen. Nein, da ist zumindest noch ein wuchtiges Drittes, gestatten Sie mir, es „die kollektive volkstümliche Charismazuschreibungsmotivation“ zu nennen, nämlich: Dankbarkeit und Sympathie aus frohgemutem Erleichtertsein darüber, dass da einer selbstbewusst das verschämt verheimlichte vermeintlich Minderwertige, das schnabelwüchsig an- und eingeboren inbegrifflich Schweizerische, das kulturgestisch erzwängt Überspielte, das naturtrübe Meines-, Deinesgleichen bzw. Unserartige, kurz das offiziell Nichtige aufs selbstverständlichste als das offiziell Geltende vorlebt und es im Öffentlichen und Demokratiepolitischen sozusagen gleichzeitig domestiziert und zelebriert – und aus der in jedermann neu-handfest genährten Hoffnung, trotzdem oder gerade deshalb auch einmal sehr reich zu werden.

(Kaltbrunn, August 2007)

Anhang II. (Nochmals verkürzende Bearbeitung von „Schimäre Charisma“/„Mangel lehrt idolisieren“; 2. Leserbriefversion)

Diesseits und jenseits des scheinbar Charismatischen

Von Bernhard Benz

Meinungsmacher und/oder kommerzorientierte Akteure erfinden es, die Medien kolportieren es und die Publikumsmassen zeigen sich willfährig, es zu bejahen: dass diese oder jene (willkürlich erschriebene) Leit- oder Idolfigur Charisma besitze.

Im Sinne einer objektiv feststellbaren Wirkkraft gibt es Charisma nicht, und wo nicht einfach unreflektiertes Urteilsübernehmen oder -nachreden am Werk ist – nämlich im Bereich mehr privater Interaktion –, dürfte eine psychologische Erklärung für das Trugbild der „Gnadengabe“ einer „besonderen Ausstrahlungskraft eines Menschen“ greifen: Bewusste und unbewusste Wünsche, Sehnsüchte, eigene Unzulänglichkeiten oder gar Defizite einer Person konstellieren ihre Wahrnehmungsdisposition so, dass sie dazu neigt, die ermangelten Qualitäten auf geeignete Projektionsfiguren zu übertragen, ihnen eben Charisma zuzuschreiben!

Wer ausserhalb eines „charismatischen Banns“ steht, dem fehlt notwendigerweise die Möglichkeit, fasziniert zu sein, was keinesfalls zwingend Anlass gibt, Verärgerung zu zeigen, vielmehr häufig durch Erheiterung, Empfindungen des Komischen entgolten wird. So jedenfalls geschieht mir, wenn ich dem Phänomen gegenüberstehe, dass Chr. B., einem schweizweit bekannten Politiker, selbst von reputierten Chefredaktoren auch gegnerischer Couleur Charisma attestiert wird.

Verfolge ich beispielsweise via Fernsehgerät Rede- oder Interviewausschnitte mit Herrn B., manifestiert sich in meinem solcherart stimulierten Bewusstsein mit zuverlässiger Promptheit regelmässig die Erinnerung an eine nachgerade archetypische Formulierung aus einem Gedicht Hans Morgenthalers (1890 bis 1928): Welch „plumper, schwerer Schweizer Keib“! Und zuweilen regt dieses Bild weitere, blumigere Empfindungen, pittoresk gesteigerte Ein- und Ausdrücke an, wie etwa: Welch brienzerisch geschnitzelte Verkörperung des urbildlichen Echtschweizer-Stereotyps! Welch vaterlandszelotische, kehlkrachige wie gepresstvokalige, sonntagshosige Holperredefrönerei, trutzig-stolze, wehrhafte, winkelriedische Hochdeutschbefehdung! Welch krempelärmelige, heimatgewisse, entrüstungsträchtige Alles- was-recht-ist-Rhetorik! Welch eidgenössisch erschworene währschafte Behäbigkeit und rechtschaffen-feste Säckeltreue! Welch redlich-ungelenke Dorfschwankmotorik mit brusttoninnigem Alpsegenpathos …, u. Ä.! Zum Steinerweichen und Gotterbarmen – falls hieraus etwa erlittene Not und schwerlastende Fügung für rührende, tapferkeitlich-unbändige Selbstbehauptungsversuche zeugen …

Doch halt: Sollte nun aber die weiter oben erwähnte Aus- oder Kennzeichnung Chr. B.s als charismatische Figur landauf, landab etwa erhebliche Zustimmung finden, scheinen mir medial suggerierte Massennachahmung und individuelle Projektionsvorlieben als Erklärungsgründe nicht hinzureichen. Nein, da ist zumindest noch ein wuchtiges Drittes, gestatten Sie mir, es „die kollektive volkstümliche Charismazuschreibungsmotivation“ zu nennen, nämlich: Dankbarkeit und Sympathie aus frohgemutem Erleichtertsein darüber, dass da einer selbstbewusst das verschämt verheimlichte vermeintlich Minderwertige, das schnabelwüchsig an- und eingeboren inbegrifflich Schweizerische, das kulturgestisch erzwängt Überspielte, das naturtrübe Meines-, Deinesgleichen bzw. Unserartige, kurz das offiziell Nichtige aufs selbstverständlichste als das offiziell Geltende vorlebt und es im Öffentlichen und Demokratiepolitischen sozusagen gleichzeitig domestiziert und zelebriert – und aus der in jedermann neu-handfest genährten Hoffnung, trotzdem oder gerade deshalb auch einmal sehr reich zu werden.

(Kaltbrunn, Anfang Oktober 2007)

(Einige Jahre später)
Exkursartige Ergänzung – zuhanden einer eher spezifisch interessierten Leserschaft:

Fiktion „Gnadengabe“ – ein gnadenloser Hinblick

(fragmentarische Skizze)

Es soll hier ein zeitgemässes Blickfeld angesprochen werden; frühreligiös und historisch verheissene oder erklärte Funktionen und Gehalte des sogenannt „Charismatischen“ werden nicht aufgegriffen, und auf die bekannten Ausführungen Max Webers soll nicht explizit eingetreten werden. Der reputationslose Verfasser zieht während der Ausfertigung des Textes weder gedruckte noch elektronisch vermittelte Quellen bei und baut daher etwas vermessen auf den (knappen) Grund seines eigenständigen Denkens (wenn auch ohne das Bewusstsein davon zu ignorieren, dass bei allen menschlichen [verbalen] Bekundungen allgemein wie spezifischer die Vorbehalte intertextualitätstheoretisch begründeter Evidenzen geltend gemacht werden können, dürfen, sollen oder müssen).

Nicht allzu viele, aber auch nicht gar nur vereinzelte wenige Individuen sind mit Begabungen, Fähigkeiten, Tugenden oder Hingabeleidenschaften ausgestattet, die sie diesbezüglich aus dem Gros der Gesellschaft herausragen lassen. Suchten wir nun eine (nicht näher bestimmte) Menge dieser Talente oder Veranlagungen in heuristischem Sinne unter dem Begriff „charismatischer Eigenschaften“ zu versammeln, schiene es unseren Erachtens angezeigt, deren Entfaltung und Bedeutung unter dem Aspekt der Gedeihlichkeit ihrer potentiellen oder faktischen Wirkung auf die menschliche Gemeinschaft in sozialer, kultureller und ethischer Hinsicht in nicht zu kleinlicher Auslegung als konstruktiv-erwünscht zu qualifizieren. (Hierauf näher einzutreten, ist an dieser Stelle nicht Platz genug.) Zudem hätte sich die Ausstrahlung eines bzw. einer „ausseralltäglich“ Begabten per definitionem zumindest ursprünglich aus sich selbst und natürlich, d. h. ohne massenmediale oder durch Affizierte propagierend geleistete Beihilfe in einer Weise unwillkürlichen Anmutens durchzusetzen und zu bewähren. Doch das Kriterium der (breiteren [und vollständigeren und rascheren?]) Publikumsbeeindruckung als eines essentiellen Qualifizierungsmerkmals des „Charismatischen“ müsste nach unserem Dafürhalten ausdrücklich auch als dessen bestimmungsinhärent Antagonistisches, nachgerade als sein apriorischer Makel bezeichnet werden, denn nach bestverstanden konservativer Massgabe distanzieren wir uns von einem (dekadent verallgemeinerten) ökonomistischen Qualitätsbegriff, der diesen mit optimiertem (materiellem) Gewinn als Erfolg gleichsetzt und ihn also an die grösstmögliche Verkäuflichkeit eines Produkts und damit an eine hohe Instinktbefriedigungsrelevanz bindet, sondern beharren darauf, Nobilität und Exzellenz der Qualität – kulturhistorisch erweisbar und anthropologisch gleichsam naturgesetzlich bedingt – der Quantität als unversöhnlich entgegengesetzt aufzufassen. (Und auch hierzu wäre allenfalls ein eingehenderes Eintreten nötig oder wenigstens hilfreich, denn begrifflich verweist ein allenfalls mit „Charisma“/“Gnadengabe“ bezeichnet Gemeintes auf ein Vornehmes seines Ursprungs, seiner Funktion und seiner Wirkungsweise.)

Ob die Behauptung oder die Rede von „Charisma“ bzw. „charismatischen Eigenschaften“ oder gar von einer „charismatischen Persönlichkeit“ sich überhaupt oder schlechthin rechtfertigen lasse, liegt aber allein im (zu beeinflussenden, zu überzeugenden, zu betörenden …) „Objekt“ begründet. Zwecks Plausibilisierung dieser Aussage richten wir unser Augenmerk vorzugsweise, d. h. aus Gründen akzentuierender Verdeutlichung, auf die zwei am klarsten voneinander unterscheidbaren „Objekt“-Typen:

Typ I) Das Individuum, welches aus seiner (teilweise) selbst verschuldeten Unmündigkeit (mehr oder weniger definitiv) herausgetreten ist, vermag Originarität, Ausgeprägtheit, Konturen, gesellschaftliche Wünschbarkeit, allfällige Folgen und mögliche Wendungen einer Sonderbegabung und ihrer unwillkürlicheren oder beabsichtigteren Wirkentfaltung aufgrund
gereifter Urteilsfähigkeit sowohl befugter wie demnach angemessener einzuschätzen als die meisten andern. Und dasselbe Individuum ist nicht minder gut als andere in der Lage, fallweise den Auszeichnungsgrad und die Singularität vorbildlicher, fruchtbarer, berückender, verblüffender, konstruktiver (u. dergl. m.) Gaben und Fähigkeiten zu erkennen und gegebenenfalls mit wohlanstehender Anerkennung massvoll und neidlos zu würdigen. Aber der Typ I kennt keine exzessive Fasziniertheit, wendet sich in allem Gegenübertreten – autonomiegewohnt – unwillkürlich oder vorsätzlich in den Subjekt-Status, relativiert grundsätzlich Verdienstlichkeit, Ausserordentlichkeit und Bewunderungswert zufalls- oder schicksalsverliehenen, ererbten wie erarbeiteten Herausragens, übersieht an keinem Mitmenschen das zugleich vorhandene und auch und noch waltende Allgemein- und Allzumenschliche, kurz: Typ I bleibt verlässlich bei und in sich, kennt keine Idolisierung, keine Vergötzung, ist nicht fanatisch vereinnahmbar – für ihn ist der Begriff des „Charismatischen“ widersprucherregend oder gegenstandslos. Bedauerlicherweise vertritt er nur eine verschwindend kleine gesellschaftliche Minderheit.

Ganz anders Typ II) Dieser repräsentiert die milliardenköpfige Masse der herdentrieblich Gesteuerten und Manipulierbaren. Er richtet sich behaglich und anstrengungslos in seiner Unmündigkeit (ihrer nicht bewusst) ein, lechzt nach Spass und Events, ist Fan, hat Idole, ist (nahezu) allzeit bereit, Heilskündern und Scharlatanen zu erliegen und Führern zu folgen, und fühlt sich dennoch gern „frei“, zu tun, was er will, ohne sich über die Quellen, die Motive, die soziale Verträglichkeit seines Wollens (und selten über die Folgen des „freien“ Tuns) Rechenschaft zu geben. Er huldigt den „Emotionen“, dem Konsum, der Technologie, trachtet – „Erziehungs“-versehrt – nach sofortiger Trieberfüllung, schmäht die Intellektualität, hält dies alles für Entfaltung von „Individualität“, reklamiert egoman-pathetisch die Menschenwürde und pocht auf ihm uneingeschränkt zu gewährende (verdienstlos zustehende) Menschenrechte, ohne den Status eines etwa unter Anstrengung allfällig notwendig zu entwickelnden eigenen Menschseins (geschweige denn die geschuldete Menschenpflicht) zu reflektieren. Er verharrt im „Objekt“-Zustand, auch wenn er sich in Erfüllung instinktiver Bedürfnisse als Akteur wähnt … Und er ist das willig-fügsame Opfer sogenannter „Charismatiker“, weil diese ihm zu besitzen scheinen, was er aufgrund seines entsprechenden, un- oder halbbewussten Mangelempfindens auf jene als deren vergötzt Begnadetes projiziert. Trend-, mode- und zeitgeisthörig sowie zugehörigkeitssüchtig funktioniert unser Typ II zudem als gleichsam idealer (weil in erheblicheren Belangen weitgehend kritikunfähiger) Empfänger, Verstärker und Kolporteur mehr oder weniger willkürlicher „Charisma“-Zuschreibungen durch Gruppe, Leader, Umkreis- und Zeitgenossenmehrheiten sowie instinkt- bzw. quotenorientiert berechnender diesbezüglicher Maximierungs- und Hysterisierungsinszenierungen durch die massenmedialen Infotainmentmaschinerien. – (Allein unter dem Aspekt eines hohen Grades williger Fügsamkeit gegenüber einer „charismatischen“ oder sonst wie [selbst]erkorenen Führerfigur, nicht aber im Hinblick auf die meisten andern der dem Typ II bescheinigten oder unterstellten Attribute, will hier der Vollständigkeit halber auf die zwar nur durch eine sehr beschränkte Zahl und Art „Gnadenbegabter“, intensitäts- und nachhaltigkeitsbezogen aber eher noch markanter oder vollständiger affizier- und überwältigbaren Typ-II-Nebentypen – den ideologisch Verblendeten und den fundamentalistisch bzw. wahnhaft Religiösen – hingewiesen sein.)

Wer möchte da und jetzt noch affirmativ von oder über „Charisma“ reden hören!

Hypothetisches Fazit: „Charisma“ begreifen wir als (objektseits) notgeborene Fiktion eines Fluidums, das über Heillose Heil ergiesse oder sie wenigstens mit dem Glauben hieran und an die Heilbarkeit betäube – auf den Begriff gebracht, diesen bedachtsam gefestigt und ihn wohltätig instrumentalisiert von den Nutzniessern und huldvollen Galeriegästen vielfältiger Illusionierungsvorgänge und -dramen.
(Kaltbrunn, März 2013) Bernhard Benz

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