Männlichkeit und Unbildung

Männlichkeit und Unbildung

Von Bernhard Benz

Erhebliche Teile der gegenwärtigen Weltgesellschaft sind durch den im Ursprung und seiner skrupellosesten Praxis nach angloamerikanischen Allvermarktungstotalitarismus (ausweglos?) beschädigt – auch die Schweiz, seit hundert Jahren schon Uncle Sam’s erster und devotester nachahmungsbeflissener Gesinnungsmusterneffe. Im Terror des Hyperkapitalismus gipfelt der Entwicklungsprozess einer kontinuierlich radikalisierten Dominanz des männlichkeitlichen Prinzips eines unablässigen, rast- und ruhelosen, begehrlichen, erraffenden Objekt- und Besitzstrebens, das sich heute als totale Güterfixiertheit und verabsolutiertes Produktions-Konsumations-Perpetuum manifestiert. Noch vor der Umwelt wurde im Zuge zunehmend einhelliger gebilligter und heute nahezu hermetisch etablierter Idolisierung von Dingwelt und Ökonomie die Idee der Menschenbildung – im Sinne einer fortschreitend sich vervollständigenden Entwicklung der besten und edelsten Anlagen des Menschen bei einer stetig wachsenden Zahl der an ihr teilhabenden Individuen – zur Strecke gebracht. Doch Bildungsdirektoren, Schulbehörden und Schulleiter verbreiten in einsichtswidriger Betriebsamkeit selbstrechtfertigungsmotivierte euphemistische Verlautbarungen und beten in unverkennbar schaumschlägerischem Managementjargon die stereotypen Phrasen von Qualitätssicherung und Innovativität daher, während die Massen von Kindern und Jugendlichen rasant anwachsen, deren Eignung zur Ausbildung kreationeller, sozialer, kognitiver und charakterlicher Kompetenzen zu den Minima tendiert! Dass die unumschränkt herrschende maskulinistische Marktideologie das maskuline Individuum stärker affiziert und damit auch beschädigt als das weibliche, liegt auf der Hand. Und je schwächer eine allgemeine Reflexionskultur entwickelt ist, was in der Regel mit der Zugehörigkeit zu je tieferer sozialer Schicht einhergeht, desto kritik- und widerstandloser ergeben sich vor allem die Angehörigen des männlichen Geschlechts dem heutigen Zeitgeist und fungieren als dessen Stabilisatoren, schlechter noch, als dessen passiv-willfährige Protagonisten! Und jene andern, die aufgrund des unkritisch verinnerlichten, systemkonformistisch propagierten Trendschlagwortes von der sogenannten „Wissensgesellschaft“ wähnen, bei ihrem „zielorientierten“ Erwerb von „Kompetenzen“ im Rahmen einer Industrialisierung und Ökonomisierung des Wissens auf Bildungswegen zu wandeln, sind gar doppelt irrig unterwegs. Erstens weil ihr Tun im Dienste der Kapitalisierung des Geistes sie stracks und forsch zum Gegenteil von humanistischer Bildung marschieren lässt, und zweitens weil sie dabei noch vom stolz bejahten Dünkel besonders effizienter Klugheit erfüllt sind und in arroganter Borniertheit nicht materiell-renditefixiertes Denken und Handeln als vorgestrig verlachen.

Soweit in konkreten Frauen- und Mädchenindividuen sich noch die Substanz ihrer weiblichkeitlichen Urnatur – nämlich eine eher ganzheitliche, besitz- und dingunabhängige, eigenwertbewusste, auf Harmonie und Vollendung angelegte Wesensart  der zivilisatorischen Verschüttung entzogen hat, erliegen Frauen und Mädchen tendenziell der reinen und ausschliesslichen hedonistischen Vereinnahmung und Dekadenz weniger schnell, weniger total, mobilisieren sie unwillkürlich die Kräfte der Rettung von Kultiviertheit, Geistigkeit und Beziehungsfähigkeit. Sie tun es kraft ausgeprägter prädisponierender Intuition und mithilfe einer generell prätentionsfreieren, weniger dominanzbezweckten Kommunikationsbegabung. Unbestritten erstrangiges Vehikel des Verstehens und Verständigens ist die möglichst differenzierungsfähig beherrschte Muttersprache! Die Fähigkeit komplexen und kompetenten Sprachgebrauchs sowohl als Instrument der Beziehungspflege wie mehr noch der Reflexion aller Relevanzen der menschlichen Existenz wird, wenn überhaupt, dann am ehesten vom weiblich(keitlich)en Teil der Gesellschaft in ein postökonomistisches Zeitalter hinübergerettet und dort hoffentlich in ihren literarischen und philosophischen Höchstentfaltungen als eines der Hauptkriterien kultivierten, mündigen Menschentums reinstalliert werden. (Der Verfasser mag eine solche möglicherweise recht utopisch anmutende Wende zum Besseren noch so inständig erhoffen, faktisch steht ihrer Realisierung beinahe alles entgegen, was gegenwärtig breiteste denkträge, uninspirierte Volkskreise charakterisiert und beschäftigt. Neben der allgemeinen und heillosen egoistischen Wirtschafts- und Markthörigkeit ist in diesem Zusammenhang vor allem auch die machtvolle Einwirkung der libidinös und instinktappellativ manipulierenden Massenmedien zu nennen, die mittels umsatzmotivierter Begünstigung von Ding- und Spassorientierung, von kreationaler Passivität und von artikulationsunfähigkeitsbedingter Gewaltbereitschaft eine verantwortungslose Verdumpfung und Reprimitivierung erheblicher Mehrheiten verblendeter Menschenmassen betreiben.)

Im Umfeld der Volksschule werden heute „natürliche“ Intelligenzdefizite aufgrund grassierender zeitgeisttypischer Anspruchsdreistigkeit als „ungerecht“ eingestuft und daher weitgehend geleugnet bzw. „familiär“ versäumte Anregung und vernachlässigte gedeihliche Beobachtung frühkindlicher interaktional-hirnprozessualer Entfaltungsvorgänge als gesellschaftsbedingt unvermeidlich taxiert. Der „Normalfall“ einer dürftigen Kognitionsfähigkeit aber wird, zusammen mit Spass-, Trend- und Idolfixiertheit sowie mit Konzentrationsunfähigkeit und bagatellisierter Anstands- und Disziplinlosigkeit, zum Massstab der Voraussetzung für die (Konsum-)Chancengleichheit aller Volksschüler/-innen erhoben und bestimmt das Unterrichtsniveau. Und die durch Fortschrittsetiketten verschleierte, real jedoch zunehmend ins Zentrum rückende Hortnerfunktion des Personals der Volksschule prägt – zwar inoffiziell, aber die Bildungsarbeit zusätzlich erodierend – die faktische didaktische Praxis. Die grossmehrheitlich weibliche und durch die aufgezwungenen Management- und Dienstleistungsstrukturen eingeschüchterte Volksschullehrerschaft stellt ihren empathistischen Impetus ohnmächtig willfährig, devot leidgewohnt und also wenig systemkritisch in den Dienst der Untermauerung und des Fortbestehens des lamentablen Status quo.
Die Taktgeber des verabsolutierten ökonomistischen Wettbewerbs, ihre bürgerlichen Adlaten sowie Linksutilitaristen unterwerfen die instrumentalisierten Volksmassen dem neudefinierten „Bildungs“-Zweck, der die Optimierung der Konsumationsfunktion und der Apparatekompatibilität des Menschen anstrebt. Und so treibt denn die männlichkeitsgeschädigte Gesellschaft (Der 
Mann ist dem Menschen ein Wolf!) im Strom der Konsumgüterschwemme und in faszinierter Erstarrung vor den pharmako- und technologischen „Zaubermitteln“ der dystopischen Endbestimmung von Androidisierung und Roboterisierung entgegen.

Hohnvoll grinst uns das Wort von der „Schule als Spiegel der Gesellschaft“ entgegen; die (politisch) aufoktroyierte falsche pädagogische Strategie der reaktiven Anpassung hat die Schule in den lächerlichen Rang eines (zertifizierten) Subsystems der Wirtschaft bugsiert. – Dem Rufer in der Wüste vergleichbar, postuliere ich, dass die Schule sich einem Menschenbildungsauftrag bedingungslos verschreibe, der sich am Vorbild eines friedfertigen, anständigen, rücksichtsvollen, materiell bedürfnisbescheidenen, reflexionsfreudig-spirituellen, gemütvollen, redlichen, gemeinsinnfähigen und humorvollen Menschen orientiert, und in dieser Weise aktiv prägenden Einfluss auf Kultur und Gesellschaft nehme.

Möge gleichsam über Nacht eine phänomenale Kollektiverleuchtung sich wundersam ereignen und die Zahl jener, die sich der anthropoiden Beutegier und des dito Herdentriebs entschlagen haben, vom Verschwindenden ins Beträchtliche mehren und der Wille Oberhand gewinnen, das zwischenmenschliche Denken und Handeln von vernünftig-ethischen Prinzipien leiten zu lassen! – Würde dann eine allfällige Mehrheit von Mündig-Vernünftigen nicht beispielsweise als gerecht anerkennen, Erziehung, Bildung, sozialen Umgang, öffentliche Existenzsicherung und rechtliche Unbescholtenheit u. a. am Grundsatz einer Symmetrie oder Balance von beanspruchten/gewährten Rechten und geschuldeten/geleisteten Pflichten zu verankern? Würde nicht gar der durch die herrschende Verdinglichungsideologie drohenden psychischen Vermännlichung erheblicher Teile der realen Frauenschaft Einhalt geboten und gesamtgesellschaftlich eine echte weiblichkeitliche Emanzipation gefördert werden, die mittelfristig nicht auf die geschlechtlich umgelagerte Aneignung von falschen männlichkeitlichen politischen, wirtschaftlichen, militärischen und sozialen Zuspitzungen und Selbstprivilegierungen aus ist, sondern deren ersatzlosen Rückbau zum Ziel hat?

(Kaltbrunn, März 2008)
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