Lob der reinen Sprachlichkeitlichkeit 

Lob der reinen Sprachlichkeitlichkeit 

Von Bernhard Benz  

Würdigungsstück für Robert Walser zur fünfzigsten Wiederkehr seines Todestages am 25. Dezember 2006

Ein wenig Berufener und überdies irgendwie nachahmerisch Dilettierender, einer zudem, der in eher lächerlicher wie altmodischer Weise von Wahl- und Seelenverwandtschaft daherphantasiert, glaubt sich hier mit der scheiternsträchtig vorbedachtsermangelnden Bemühung schmücken zu sollen, in wenigen Sätzen – und daher aber ohne jeglichen Abgeschlossenheitsanspruch – einiges für wesensgerecht Gehaltene über den inbegrifflichsten Schweizer Poeten, Robert Walser, und sein Werk einer allfälligen und dannzumal geschätzten Notiznehmerschaft unterbreiten zu dürfen. Dabei will dieser solchermassen nicht gerade als Bescheidenheitsausbund in Erscheinung Tretende immerhin den Umstand, dass eine Bekannte seiner mütterlicherseitigen Grossmutter anlässlich der währschaft-munteren Mittagstafelei Walsers mit seinem Wandergefährten Carl Seelig an einem heissen Julisonntag im Jahre 1943 im „Frauenhof“ im rheintalischen Altstätten als Saal- oder Serviertochter zugegen war und den beiden Appetitbegabten in hurtiger und rosigfrischer Landmädchendienstbeflissenheit die Speisen darreichte, keinesfalls und auch nicht als weitesthergeholten Beweg- oder gar Rechtfertigungsgrund für diese Textausfertigung in Geltung bringen. –
Wie es der Menschennatur eben notwendig widerfahre, vermischten sich beim Sinnen und Urteilen Ahnungen, Vermutungen, subjektive Wahrnehmungen, Zugetragenes und Aufgeschnapptes, Konstruiertes und Gewähntes zum persönlichen Verstandes- und Zustandsgewirr, welches sich auch unwillkürlich den hier anfolgenden Darlegungen aufstemple (was übrigens ganz allgemein auf alle menschlichen Verständigungsgeschäfte zutreffe, aber sträflich selten ausdrücklich ins Bewusstsein gerückt oder gehoben werde):

Robert Walser wurde 1878 in Biel geboren und starb 1956 in Herisau; dazwischen gedieh er bald zum sensiblerenorts wahrgenommenen Entfalter und Erweiser poetisch-schriftstellerischen Talents, und in zwei, drei Jahrzehnten materiell dürftigster und einsamkeitsgeprägter Lebensumstände wuchs mit und in ihm die Verkörperung einer einmalig-besonderheitlichen Meisterschaft heran: diejenige des entwickeltsten, kunst- und künstlichkeitsdurchwirkten und -durchtränkten, jedes Grundmuster himmelweit unter sich zurücklassenden (Schul-)Aufsatzschreibens. Anders gesagt: Er stiefelte oder spazierte, tänzelte oder schwänzelte in plumpeleganter Schweizer Weise eigensinnig und scheinbar wenig zweckbündig durch Kontore und Bureaux, Felder und Wälder, Gaststuben, Dörfer und Städte, kurz durchs so genannte Jammertal, und schriftstellerte und sprachdrechselte fleissig und honett daher und drauflos und erfand sich seine Welt, die er – meubliertzimmrig hausend oder klausnernd – in Tagesstückportionen oder -fragmenten oder -kleinodien auf Billigpapier, unbedruckten Kalenderrückseiten oder Zeitschriftenrändern mit ordnungs- und säuberlichkeitsbedachtem Schönschriftausdruck, zuweilen auch in sparsamkeitlicher Kleinstschrift ins Sprachreich hineinbleistiftelte – das im Geschriebenwerden Begriffene während und wegen des Formulierensollens und -wollens humor- und rankenreich abwandelnd, vexierend, stilisierend. Was er dachte, fühlte und erlebte, komponierte oder transponierte er in ironisch-ernste Equilibristeleien aus und auf poetischem Grund, will sagen, dass das Dichtkünstlerische und -künstliche wahrscheinlich früh schon miterregende und mitlenkende Wirkkraft, Brille, Filter, Arrangeur oder Drapierer dessen wurde, was er dachte, fühlte, tat und erlebte bzw. zu denken, zu fühlen, zu tun und zu erleben sich veranlasst, hingewiesen, gedrängt und gezogen sah resp. anzumerken, zu vermelden und vielleicht auch etwa lappihaft spassig sowohl für wahr wie erschwindelt zu halten oder auszugeben und einer hoffentlich Beifall zollenden Leserschaft zu unterbreiten sich für geeignet, genötigt, ausersehen oder verpflichtet halten musste oder konnte. Ob ich mich wohl vermessen darf, meine Anmutung und Vorstellung von der Walserpoetenwelt durch eine etwas abseitige, stimmungstrunkene Bezeichnung oder Betitelung als „mansardische Sprachlichkeitlichkeitslandschaft“ auszudrücken?

Der eigentümlich wesensgrundrätselig und schicksalsgefügt prädisponierte Walserleser, der, wie ich, keiner pädagogischen Heranführungs- und Überzeugungsarbeit bedurfte, um sich von R. W.s Erzählen und der daraus hereinwachsenden, zart überwältigenden, das Gemüt fortan durchblutenden Affizierung beseelt und erst eigentlich zu sich selbst erweckt zu fühlen, kann sich hochgradig ausserstande sehen, über seine Konfaszination analytisch, kriterienaufreihend begründenden Bescheid zu geben. Falls da ein nüchternheitsboldischer Faktenheischer es unnachgiebig verlangt, nenne ich in Gottes Namen doch zwei allerdings nur aufs knappste umschriebene Merkmale: den koketten, ornamental manierierenden, ironischen, sprachspielfreudigen, witzigen und häufig selbstreflexiven Schreibstil Walsers – Form und Aussage zugleich! – und das Fehlen unterhaltungszweckgerichtet erfundener dramatischer Spannungs-, Sensations-, Abenteuer- und Kriminalelemente – als Authentizitätserweis wahrheitlichkeitlicher, pathosfreier Innen- und Selbstsichtentfaltung sowohl eines dichterberuflichen wie eines jeden nichthysterischen Individuums!

Ein Mensch, der nicht z. B. „Geschwister Tanner“, „Der Spaziergang“, „Der Gehülfe“, „Kleist in Thun“ oder „Schneien“ gelesen hat, hat die schönsten (literarischen) Angerührtwerdensgelegenheiten eines hiesigen Menschenlebens versäumt. Menschen ferner, die durch die Lektüre dieser beispielsweise genannten Texte nicht ergriffen, befriedet, zu poetisch-humorvoller und melancholisch-gelassener Lebensausrichtung bekehrt werden oder denen sich durch jene nicht ihr eigentliches Wesen bzw. das künftig sie durchwaltende Bewusstsein einer elegisch-heiter und sprachlichkeitlich sublimierbar aufgefassten Daseinsbestimmung entschleiert, sind keine Menschen, deren Seelenkonstitution ich verstehen kann. Ihrer sind erdrückend viele.

Ueber die Richtigkeit von Walsers (zunächst auf Nietzsche gemünzter) Gesprächsbemerkung: „Wie viele philosophische Systeme sind nur eine Rache für entgangene Genüsse!“ lässt sich im Rahmen dieses Aufsatzes kein Urteil fällen, das einem nötigen Differenziertheitsanspruch angemessen Genüge leisten würde. Aber ein anderes will ich wagen: Äusserlich anscheinend entgangene Genüsse können begünstigende, die Phantasie erst recht inspirierende Voraussetzung für die Kreation einer literarischen Zauberwelt sein, mit und bei welcher der empfängliche Leser in seine persönliche innerlichkeitliche Heimat finden kann.

Ich träume von guten, vornehmen, geist- und gefühlvollen Autoritäten, von Lehrern nach schönster menschenbildnerischer Auslegung ihrer Funktion, die alle Volksschüler bis zu ihrem Schulabgang z. B. mit Robert Walsers „Der Spaziergang“ oder „Geschwister Tanner“ bekannt machen und die Heranwachsenden die aus solchen Lehr-, besser Lernbüchern herauswirkende poetische Lebensauffassung bejahen, schätzen, lieben und praktizieren lehren! – In der Realität indessen droht der insgesamten börsenkursnavigierten Weltnarrenschiffsinsassenschaft weit eher – sprachlichkeitslos und reflexionsunfähig, dafür mit Konsum- und Computeranwendungs-Englischrudimenten programmiert –, entmündigt und luxuswanstig an Befriedigungsexzesse anthropoider Grundbedürfnisse gekettet, aber apparatekompatibel und robotisch mutiert ins Androidenzeitalter hinüberzudümpeln.

(Kaltbrunn, November 2006) 
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