Die Verschränkungen des Historischen und des Utopischen

Schriftfundstück von 1983:

Die Verschränkungen des Historischen und des Utopischen

Von Bernhard Benz

Alte (historische) Nachricht
vom 1. Aug. 1991

Washington/Moskau/Bonn/Paris/London. Die Utopie ist von der Realität eingeholt worden! Durch eine vom Weltfrauenvorstand unter strenger Geheimhaltung weltweit bis ins Detail geplante und vorbereitete und in der Nacht vom letzten Montag auf Dienstag ausgelöste konzertierte Aktion wurde das ganze globale Machismo-Establishment aus Ämtern und Funktionen gestürzt. Sämtliche Regierungschefs, Minister, höheren Politiker, sämtliche Offiziere der Grade vom Hauptmann bis zum General, alle Manager, Verwaltungsräte, Grossaktionäre und Staranwälte sowie alle Spitzenwissenschaftler technischer und merkantiler Disziplinen, die Hauptvertreter militanter Ideologien und auch die Mafia-Bosse und Gangsterchefs wurden in allen Staaten der Erde überrumpelt und gefangengesetzt.

Laut Augenzeugenberichten wurde dabei eine unorthodoxe, neuartige, aber im Prinzip einfache wie wirksame Taktik angewandt: In den Basiseinheiten des Weltfrauenbundes, dem 94,3% aller Frauen der Erde angehören, in den Quartier- und Ortsorganisationen, wurden nach den lückenlos erstellten Listen der Sturzkandidaten Gruppen von drei bis fünf Frauen pro Listennamen gebildet. Zur „Weltbefriedungsstunde null“, wie der weltweit einheitlich vereinbarte Einsatzzeitpunkt genannt wurde, suchten die Frauentrupps ihre männlichen Feindobjekte in Büros, Wohnstuben, Schlafzimmern, Nachtlokalen oder wo auch immer auf, umgarnten ihr Opfer vorerst mit allerlei Geschäker, zogen ihm dann unter vorgetäuschten erotischen Avancen die Hosen aus und fesselten in vorgeübter Blitzesschnelle seine Hände auf dem Rücken. Anschliessend wurden die hosen- und in aller Regel auch würdelosen Gefangenen zu den lokalen und regionalen Sammelstellen geführt.

Dem neuesten Communiqué des Weltfrauenvorstandes ist zu entnehmen, dass zur Zeit alle verfügbaren Schiffe und Flugzeuge im Einsatz stehen, die Gefangenen an den Ort ihres lebenslänglichen Exils zu überführen. Das sogenannte Phallokraten-Reservat ist identisch mit dem Territorium der Hauptinsel Feuerlands und wird für die nächsten Jahrzehnte hermetisch abgeriegelt. Im Grossen und Ganzen werden die Exilanten sich selbst und ihren destruktiven Neigungen überlassen sein; alle verfügbaren Exemplare an „Monopoly“-Spielen sowie der gesamte Weltbestand an Kriegsspielzeug wurden bereits im Reservat abgesetzt.

Im Communiqué verlautet weiter, dass in einer ersten Massnahmenetappe weltweit sämtliches Kriegsmaterial, vom sog. Schweizer Offiziershegel bis zu den Nuklear-Raketen – die privaten Waffen seien bereits lückenlos eingesammelt –, vernichtet, abgewrackt, verschrottet werde. Alle Fabriken und Industriebetriebe, die an der Produktion von Rüstungsgütern ganz oder mehrheitlich Anteil hatten, werden stillgelegt. Grosse Anlagen werden zugunsten neuer Grünzonen abgebrochen, in kleineren Objekten sowie in neu zu erstellenden Kleinkomplexen werden Manufakturen von Gütern des täglichen Bedarfs eingerichtet.

Abschliessend heisst es in der Mitteilung, dass sämtliche Kosten für die gesamten Umstrukturierungsmassnahmen sowie auch volle Lohnzahlungen für alle dadurch bedingten kurz- , aber auch längerfristig Arbeitslosen ohne Steuererhöhungen von den Gemeinwesen getragen würden. Die Mittel der umzubenennenden vormaligen Rüstungs- oder Verteidigungs-Etats reichten hierfür und für zusätzliche Befriedungs-, Ernährungs- und Umweltrestaurierungsprojekte bei weitem aus.

Neue (utopische) Nachricht
vom 15. Nov. 2015

Letzte Meldungen. Bern. Ein bedauerlicher Zwischenfall hat sich heute früh im Raume Oberägeri/Morgarten ereignet. Einige hundert Aargauerinnen, die blumenbekränzt und singend nach dem Tessin unterwegs waren, wurden von einer Horde knüttel- und sensebewehrter, furios kreischender Schwyzerinnen überfallen und blutig in die Flucht geschlagen. Bis zur Stunde sind mindestens 150 tote und 220 zum Teil schwer verletzte Aargauerinnen zu beklagen.
Nach ersten Mutmassungen scheint in zweifacher Hinsicht Eifersucht das auslösende Motiv dieser anachronistisch anmutenden Gräueltat gewesen zu sein. Die Aargauerinnen waren nämlich zu ihren Lieblingsschwestern, den – wie es heisst – süssen Tessinerinnen unterwegs gewesen. Wenige Tage zuvor hatten die letztgenannten einer Werberinnen-Delegation aus Schwyz die kalten Schultern gezeigt. Als Funke im Pulverfass soll dann gewirkt haben, dass beim Herannahen der Aargauerinnen auf schwyzerisches Territorium sich die Zeugungsmännchen der Schwyzerinnen – für gewöhnlich eher mürrische und schlaffe Gesellen – in auffallender und verdächtiger Weise zu plustern und zu blähen begonnen hatten.

(Kriessern, 1983)

(Analogisierende Datensymbolik:

1. Aug. 1991:  Gründung der Schweizerischen Eidgenossenschaft Anfang August 1291

15. Nov. 2015:
erster Bewährungskampf des neuen politischen Gebildes: Schlacht bei Morgarten am 15. Nov. 1315)

Nachwort
Der vorstehend wiedergegebene Text wurde also 1983 verfasst und war bis dato nicht druckmedial vorgelegt worden. Die in den beiden Untertiteln quasisymbolisch zum Ausdruck kommende Datenanalogie zu eidgenössisch-mannsgeschichtlichen Ereignissen mag den Anschein begünstigen, es sei mir erstrangig daran gelegen gewesen, mit fiktiven weiblichen Figurantinnen im 20./21. Jh. eine skurrile Exemplifizierung der These einer Wiederkehr des (vermeintlich) weitgehend Gleichen zu behaupten. Dieser Anschein aber täuscht nicht wenig. Vordergründig kann zwar sowohl dem Rütlischwur wie dem Aufstand der Frauen das gemeinsame Charakteristikum eines Rebellischen zuerkannt werden, aber während sich in Ersterem lediglich eine Abgrenzung gegen gleichartig Männlichkeitliches manifestiert, beschwört der Letztere die Beseitigung a priori destruktiver männlichkeitlicher Herrschaftsverhältnisse durch Impetus und Intention eines elementaren Weiblichkeitlichen. Nahezu ein schriller Gegensatz jedoch äussert sich in der scheinbaren Morgartenanalogie, und zwar gerade wegen der handlungsbezogenen Ähnlichkeit: Kann das 1315er-Ereignis durchaus als eine Art von Bewährungs- oder Bestätigungsakt aufgefasst werden, kommt jenes von 2015 im Vergleich mit dem 1991er-Aufbruch hingegen einer Kapitulation oder einem Untergang gleich.
Ja, beim Schreiben im Jahre 1983 konnte ich mir nicht bald genug die Realisierung eines Übergangs aller weltgesellschaftlichen Relevanzen in die Bestimmung und Lenkung durch weiblichkeitliche Instanzen wünschen (und tue es prinzipiell immer noch). Doch während der letzten gut drei Jahrzehnte entwickelten sich unter der Fuchtel des marktwirtschaftlichen Absolutismus zunehmend ein Konsumfuror, ein Technologiewahn und ein massenmedialer Publizitätsfetischismus, die mählich eine Verschüttung auch des besten Weiblichkeitlichen besorgten und heute nur mehr eine weitgehende güterfixiertheits- und egomaniegeprägte Kongruenz der ursprünglich geschlechtsspezifisch markant unterschiedlichen psychischen und sozialen Wesensnaturen konstatieren lassen.
Schon 1983 aber artikulierte sich meine alles Allgemeinmenschliche einschliessende Skepsis am Ende zwangsläufig in resignativem Gestus.
Bernhard Benz, Kaltbrunn, Juli 2015
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